Mailverkehr für Fortgeschrittene
Unschuld verloren hatte. Meine Illusionen über mich selbst. Weil ich nicht länger ein kleines Mädchen war.
Weil meine Dämonen endlich ein Zuhause gefunden hatten.
Im Gargoyle.
Hannah
Betrifft: Nobody Girl
Von: Gruber Bestattungen
Datum: 30. 11. 2012 22:17
Meine liebe »Kaktusblüte«,
Du hast auch Stacheln, erinnerst Du Dich?
Lass Dir nicht alles bieten, schon gar keine ungewaschenen Möchtegern-Raubtiere.
Als ich Deinen Bericht las, ist mir ein Song von Ryan Adams eingefallen: »Nobody Girl«.
Ist sozusagen das Pendant zum »Nowhere Man« von den Beatles. Genauso verloren, genauso zerbrechlich.
Pass auf Dich auf. Auch Du bist nicht unkaputtbar.
Und ich bin müde.
Drei Kinderbestattungen in einer Woche sind definitiv zu viel.
Mike
Betrifft: Träume
Von: H. Zimmermann
Datum: 02. 12. 2012 15:35
Mike,
was hast Du mir da nur geschickt? Dieses Lied ist wunderbar. Als wäre es für mich geschrieben … So schön! So traurig. Hab’s mir auf meinen iPod gepackt und höre seit Tagen nichts anderes mehr …
Ist es das, was passiert, wenn man seinem Herzen folgt? Dass man sich verliert?
Gestern Nacht habe ich geträumt.
Nobody Girl …
Eine Frau, allein, in einer kalten Herbstnacht. Sie trägt ein dunkelblaues, samtiges Cocktailkleid, ist rund, im besten Alter. War sorgfältig zurechtgemacht, als der Abend begann. Nun laufen zwei dicke schwarze Streifen, gemischt mit Blau, ihre Wangen herunter. Ihre Haare sehen aus wie »out of bed, but no fun had«. Sie trägt ihre schwarzen Pumps in der rechten Hand und geht langsam eine weniger belebte Großstadtstraße entlang. Sieht aus, als wäre sie in Trance. Weggetreten. Und wüsste doch genau, wohin. Ist schon da, im nächsten Moment (das ist ein Traum). Auf dem Dach eines Bürohochhauses in der kalt glitzernden Neonnacht einer Stadt, die verdächtig aussieht wie New York. Die Frau stellt ihre Pumps sorgfältig auf den Betonboden und steigt auf die Mauereinfassung des Daches. Balanciert einen plötzlichen Windstoß aus. Fängt sich. Geht vorsichtig auf dem Mäuerchen entlang. Balanciert, lächelt glücklich. Kommt ans Ende. Dreht sich um, sieht nach vorne in den funkelnden Reklamehimmel. Breitet die Arme aus. Sie hat Flügel. Und dann reißt der Himmel auf. Genau vor ihr. Als würde ein Fenster geöffnet in eine andere Welt. Und in dieser anderen Welt sieht die Frau sich selbst – in der Sonne, in einem Garten. Sieht sich, ungeschminkt. Ruhig und zufrieden.
Auch die Frau im Garten ist aufmerksam geworden. Hat ihre Beobachterin entdeckt. Und als die Frau auf dem Dach einen Fuß ins Leere schiebt, reicht die Frau im Garten ihr die Hand. Sie treffen sich in der Mitte, die Nacht wendet sich zum Tag, Dunkelheit mit Licht verquirlt, ein Cocktail für die Rettungslosen. Finden, fallen. Halten. Eins werden.
Ich kann fliegen.
Hannah
PS: Kinderbestattungen? Verflixt, Mike! Du brauchst eine Frau in Deinem Leben, jemanden, der für Dich da ist, jemanden, der Dich wärmt, wenn es kalt wird in der Nacht.
Betrifft: Kopfkino
Von: Gruber Bestattungen
Datum: 02. 12. 2012 18:24
Hallo Hannah!
Hast ein schönes Video zum Song gedreht. Bin mir nur nicht sicher, wie das ausgeht.
Warum ich diesen Job mache? Weil ich es kann. Weil ich gut darin bin. In acht Stunden harter Feinarbeit ein Unfallopfer so herzurichten, dass die Angehörigen am offenen Sarg Abschied nehmen können, das ist eine Herausforderung, die ich liebe.
Außerdem habe ich mit Menschen zu tun, die sich nicht mehr verstecken können. Menschen, die mir ungeschminkt begegnen, ohne Masken, ohne Heuchelei. Wahre Emotionen. Wo gibt’s die heute noch?
Und der menschliche Körper ist einfach wunderbar. Frauen, lebende natürlich, – sie sind wundervolle Geschöpfe, die ich begehre. Allein diese kleine Stelle, bei der der Oberschenkel in den Po übergeht. Dort ist es so schön weich. Und es duftet. Wenn es möglich wäre, mir dort ein Haus zu bauen, könnte ich auf ewig glücklich und zufrieden verweilen.
Aber es gibt noch so viel zu entdecken.
Einmal hatte ich es versucht. Hatte eine Frau in meinem Leben, in meiner Wohnung, in meinem Bett … Ist schnell unerträglich geworden. Sie wollte ständig Zuwendung, hat gebettelt wie ein Hündchen. Keine Spur von Selbstständigkeit, ist nie allein ausgegangen, hatte kaum Freunde. Hockte mir dauernd auf der Pelle. Ich hab’s immerhin fünf Jahre ausgehalten. Dann war Schluss.
Wenn ich das noch mal wage, dann nur mit einer Frau, die ihr eigenes Leben führt, und
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