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Mainfall

Mainfall

Titel: Mainfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Woelm
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ihn zu wecken, sondern nahm ganz still neben seinem Bett Platz. Sein Atem ging gleichmäßig und ruhig. Seine Züge kamen mir noch schärfer geschnitten vor als sonst. Jeden Tag schien er weiter abzumagern, sodass seine Wangen sich wie zwei knöcherne Hügel neben seiner Nase erhoben. Seine Haut wirkte gelblich, pergamentartig, fast durchscheinend und man konnte meinen, sie würde nicht mehr lange halten.
    Durch das Fenster sah man in den Park des Krankenhauses. Gleich hinter dem Park lag der Wald. Die Buchen reckten sich schwarzbraun und blätterlos in den blassblauen Vormittagshimmel, sie warteten wohl in der kühlen Morgenluft sehnsüchtig auf den Frühling. Ganz still war es. Nur das Atmen von Ulrich war zu hören.
    Erstaunlich lange hat er bisher durchgehalten, dachte ich. So etwas wie Bewunderung kam in mir auf für diesen tapferen Kämpfer. Irgendwann schlug er die Augen auf. Mir selbst war der Kopf auf die Knie gesunken und ich schreckte zusammen, als er »Hallo!« sagte.
    »Wie geht es dir?«, fragte ich und setzte mich wieder gerade hin.
    »Es geht so. Wenn ich schlafe, erhole ich mich etwas. Am schlimmsten ist es, wenn ich in der Nacht kein Auge zukriege. Dann liege ich wach und denke über die Kinder nach und über Isabell. Und je mehr ich nachdenke, desto weniger kann ich wieder einschlafen. Grausam ist das. Und dir, wie geht es dir?«
    Ich erzählte ihm von diesem Drohbrief aus Frankreich, von den Zuschriften der Frauen und von meinen Überlegungen, Natalie tatsächlich in Hamburg zu besuchen.
    »Du musst wissen, was du machst«, murmelte er. »Mir wäre das, glaub ich, nicht so wichtig. Ich bin froh, dass ich überhaupt noch lebe.«
    Er sank in seine Kissen zurück, als ob er meiner Probleme überdrüssig wäre. Einige Zeit war er ganz still. Schließlich sagte er: »Auch wenn du Natalie besuchst, versprich mir bitte, dass du dich um Isabell und die Kinder kümmerst.« Er sagte das so eindringlich, dass ich es beinahe bereute, ihm von Natalie erzählt zu haben.
    »Das ist doch klar, Ulrich. Ich weiß doch, was ich euch zu verdanken habe«, antwortete ich und drückte seine Hand. Noch lange sprachen wir über Isabell und die Kinder und er beruhigte sich langsam.
    »Ich möchte ihnen immer noch helfen, so gut ich kann«, waren seine letzten Worte, als ich sein Krankenzimmer wieder verließ.

9
    Drei Tage später fuhr ich im Intercityexpress nach Hamburg. Natalie holte mich am Bahnsteig ab.
    Sie versuchte mich zu umarmen, wollte mich sogar küssen, aber ich stand da wie eine hölzerne Bohnenstange, steif und abweisend, weil ich nicht wusste, ob ich sie wirklich kannte.
    »Hallo«, sagte sie. »Schön, dass du gekommen bist.«
    Wir gingen schweigend den Bahnsteig entlang. Sie lief dicht neben mir, passte in der Größe gut, war etwa einen halben Kopf kleiner als ich, schlank, wirkte sportlich in ihrer hautengen Jeans, alles stimmte an ihr und doch wusste ich nichts von ihr.
    »Vielen Dank für deinen Brief«, sagte ich, nur um überhaupt etwas zu sagen.
    »War doch klar. Ich war ja so froh, dass ich dich wiedergefunden habe«, antwortete sie erleichtert.
    »Wieso wiedergefunden? Hattest du keine Adresse von mir?«
    »Nein, leider nicht. Du warst immer sehr geheimnisvoll. Und ich wollte dich nicht verlieren. Aber jetzt wird hoffentlich alles gut.«
    So ganz verstand ich ihre Worte nicht. Sie musste wohl meine Freundin gewesen sein, hatte dennoch keine Adresse von mir gehabt. Das war ja seltsam! Demnach wusste sie auch nicht, wo ich früher gelebt hatte. Eine erste Hoffnung war in mir zerbrochen, denn natürlich hatte ich erwartet, etwas über meine Vergangenheit von ihr zu erfahren.
    Immerhin fühlte ich, dass ich auf diesem Bahnhof schon gewesen war. Als wir die stählerne Treppe zur Einkaufspassage hochstiegen und die Lautsprecherdurchsagen sich in der riesigen Bahnhofshalle verbreiteten, während ein Zug mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam und ein Kofferträger uns hektisch entgegenkam, fühlte ich, dass ich dies alles bereits erlebt hatte.
    Ich gab Natalie die Hand, die sie dankbar ergriff.
    »Ich kann mich leider nicht wirklich an etwas erinnern«, sagte ich. »Du wirst viel Geduld mit mir haben müssen.«
    »Kennst du mich denn gar nicht mehr?«, fragte sie zaghaft.
    »Nicht wirklich. Es ist schwer zu beschreiben. Ich fühle, dass ich hier in diesem Bahnhof schon war. Es sind die Geräusche, der Geruch dieser Halle, das hektische Treiben der Reisenden, die etwas in meinem Inneren auslösen. Ich

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