Mainfall
auf mich zu. Ihn interessierte mein Telefonat nicht. Er nahm mich einfach, wie ich war. Er wollte nichts von meiner Vergangenheit wissen, auch nichts von meiner Zukunft. Er lebte nur den Augenblick und freute sich, dass ich mit ihm spielte.
In der Nacht schlief ich wenig. Immer wieder ging mir dieses Telefonat durch den Kopf und die Stimme der jungen Frau aus Straßburg, die mir trotz aller Zweifel bekannt vorkam. Ziemlich gerädert wachte ich am nächsten Morgen auf und besuchte am Vormittag Ulrich in der Klinik. Ihm vertraute ich mein Geheimnis an.
»Keine Vergangenheit ist besser als eine schlechte Vergangenheit«, sagte er daraufhin. »Vielleicht solltest du die Sache auf sich beruhen lassen. Du weißt nicht, von wem du verfolgt wirst und in welche Falle du womöglich tappen könntest. Irgendeinen Grund muss es dafür geben, dass sie dich in den Main gestoßen haben. Du denkst doch inzwischen selbst, dass es kein Unfall war. Am besten berichtest du Kommissar Rotfux von dem Gespräch«, sagte Ulrich. »Er wird die Sache untersuchen.«
Am Nachmittag saß ich im Wohnzimmer von Brenners und sah mir nochmals die Zuschriften der Frauen an, die behaupteten, mich zu kennen. Ich betrachtete das Bild einer jungen Frau, die aus Hamburg geschrieben hatte. Blonde Locken, blaue Augen, ein hübscher roter Mund, der mich anlachte, als würde er sagen: ›Nur zu! Versuch’s doch einfach mit mir. Wir beide würden gut zusammenpassen.‹
Natalie hieß sie, aber ich konnte mich an keine Natalie erinnern. Immerhin war sie hübsch. Also warum sollte ich sie nicht anrufen? Vielleicht kannte sie mich ja tatsächlich. Ich legte die Zuschriften wieder zur Seite, dabei allerdings Natalies ganz oben auf den Stapel.
Vielleicht melde ich mich heute Abend wieder, dachte ich und ging hinaus in Brenners Garten. Die Nachmittagssonne lag auf der Rasenfläche unter dem Walnussbaum. Die abgestorbenen Gräser des Winters färbten die Wiese mehr gelb als grün, aber sie sahen warm und trocken aus. Etwas in mir sagte: Setz dich auf den warmen Frühlingsrasen! Ich ließ mich nieder, legte mich sogar mit dem Rücken auf das Gras, sah nach oben in den blauen Frühlingshimmel, wo sich die schwarzbraun glänzenden Zweige des Walnussbaumes mit ihren wulstigen Knospen leicht im Wind bewegten.
Ich kannte dieses Gefühl, im Frühjahr zum ersten Mal auf dem warmen Boden zu liegen, ich kannte diese Freude, in den blauen Frühlingshimmel zu blicken. Ich musste oft so gelegen haben.
Gefühle, ja, Gefühle trug ich noch in mir. Sie hatte ich retten können. Gefühle schienen das Einzige zu sein, was mir geblieben war. Aber konnte ich fühlen, ob ich eine der Frauen kannte? Sicher nur, wenn ich ihnen begegnete. Ich musste mich mit ihnen treffen, um festzustellen, ob ich sie kannte. Zu verlieren hatte ich schließlich nichts. Also würde ich es versuchen.
Zunächst klingelte das Telefon und Rotfux war am Apparat.
»Sie haben angebissen«, verkündete er freudig. »Wenn Sie in einer halben Stunde noch zu Hause sind, Herr …, äh, Herr König, komme ich kurz bei Ihnen vorbei und zeige Ihnen etwas.«
Wenig später läutete es am Gartentor von Brenners und der Kommissar begrüßte mich.
»Gehen wir in den Garten?«, fragte ich.
»Ja, gern, da komme ich mal etwas an die frische Luft. Man sehnt sich ja richtig nach Sonne, jetzt im Frühling.«
Der Kommissar schien gut aufgelegt zu sein. Er trug wie üblich einen gelben Pulli und darunter ein hellblaues Hemd. Wir setzten uns auf die Bank unter dem Walnussbaum. Seine wulstigen Knospen waren hier und da bereits aufgesprungen und zeigten hauchzarte, grünrosa schimmernde Blattansätze. Die nachbarliche Birke begann ihre braungrünen Würstchen aufzuplustern und man sah die Kohlmeisen zu ihrem Nistkasten turnen, der hoch oben am Stamm des Baumes befestigt war.
»Schön haben Sie es hier«, sagte Rotfux und atmete tief durch. »Ab und zu muss man sich eine Verschnaufpause gönnen, bei all der Hektik , die wir haben.«
Nach dem kurzen Small Talk kam er zur Sache.
»Hier, sehen Sie mal«, sagte er und reichte mir den Briefumschlag, den er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. »Post von unseren Freunden.«
Ich sah mir den Umschlag an. Er war ans ZDF adressiert, ›König von Aschaffenburg‹ stand darauf, französischer Poststempel, keine Absenderangabe.
»Nun, schauen Sie mal hinein«, ermunterte mich der Kommissar.
Ich zog ein weißes Blatt aus dem Umschlag, auf dem in großen, aus einer
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