Mainfall
genießen, dass ich bei ihr war.
»Eigentlich ist es nicht so schlimm, wenn du dich an nichts erinnern kannst«, kicherte sie später, als sie neben mir im Wohnzimmer auf der Couch lag. »Wir fangen einfach noch mal ganz von vorn an.«
Was sie damit meinte, konnte ich mir vorstellen. Aber ich war zu müde, um darüber wirklich nachzudenken.
»Vielleicht wäre es das Beste«, sagte ich nur und sog den Duft ihrer blonden Locken, die auf meiner Brust lagen, ein.
Eine Zeit lang waren wir ganz still.
Sie hatte das Wohnzimmerfenster gekippt und man hörte das Summen der pulsierenden Stadt, deren Nachtleben gerade erst erwachte. Aus der Ferne drang das lang gezogene Tuten eines Schiffes herüber. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich hier nicht zum ersten Mal auf der Couch lag und dass ich Natalie kannte.
Dieses Tuten, diese Geräusche der nächtlichen Stadt hatten sich so tief in meine Seele eingegraben, dass ich fühlte, hier schon einmal gewesen zu sein.
Später zog sich Natalie wie selbstverständlich vor mir aus. Sie schien keinerlei Scheu vor mir zu haben, weshalb ich glaubte, dass ich tatsächlich früher mit ihr zusammen gewesen war. Für mich war es komisch, denn sie war mir noch immer ein wenig fremd, so als ob ich sie zum ersten Mal sah. Interessiert hatte ich sie beobachtet, hatte festgestellt, dass sie sehr gut aussah, und stieg schüchtern in ihr breites französisches Bett.
»Bitte gib mir Zeit, Natalie«, sagte ich. »Für mich ist wirklich alles wie beim ersten Mal.«
»Wie beim ersten Mal?«, kicherte sie.
»Ja, du kannst es dir nicht vorstellen, aber es ist so. Für mich ist alles neu.«
Eine gewisse Zeit lag sie ganz still neben mir.
»Also gut, es reicht mir schon, wenn ich nur mit dir kuscheln kann.« Sie rutschte näher zu mir, legte sich ganz dicht an mich, sodass ich die Wärme ihres Körpers spürte und den Duft ihrer Haare erneut riechen konnte. Ihre Hand legte sich auf meinen Arm. Ihr Fuß berührte mein Bein. Ich hörte ihren Atem und ein leises »Gute Nacht«.
Ich lag noch lange wach, auch als sie schon längst neben mir schlief. Hunderte von Fragen geisterten durch mein Hirn: Wo hatte ich sie getroffen? Seit wann kannten wir uns? Weshalb wusste sie meine Adresse nicht? Eine erste kleine Luke zu meiner Vergangenheit hatte sie zwar geöffnet, aber kaum etwas war durch diese Luke zu erkennen. Morgen wollte ich mehr von ihr erfahren. Alles, was sie wusste, müsste sie mir sagen. Nichts durfte unversucht bleiben, um meine Vergangenheit zu erhellen.
Am nächsten Vormittag wachte ich erst um 10 Uhr auf. Das Bett neben mir war leer. Ich war allein in der Wohnung. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: ›Ich komme mittags zurück. Du findest alles im Kühlschrank. Schlüssel hängt am Schlüsselbrettchen. Natalie‹
Ich sah aus dem Wohnzimmerfenster über das Hafengelände. Die Kräne, die wie die Beine riesiger Spinnen in der Luft standen, arbeiteten schon fleißig. Unterhalb des Hauses zog der Verkehr auf einer breiten Straße vorbei.
Es tat gut, jetzt allein zu sein. Zu viele Eindrücke waren seit gestern auf mich eingestürmt und ich hatte Mühe, alles zu verarbeiten. Ich rasierte mich, duschte, frühstückte und ging hinunter auf die Straße. Das Hafengelände zog mich an und ich spazierte in Richtung der Kräne, deren Spinnenarme über dem Häusermeer in den Himmel ragten. Bald erreichte ich die St.-Pauli-Landungsbrücken und beobachtete die Barkassen, welche von dort zu ihren Hafenrundfahrten starteten.
Der Geruch des Wassers, das Klatschen der Wellen an die Stege, das Tuckern der Schiffsmotoren, das Tuten eines Schiffes in der Ferne, das alles kannte ich. So etwas wie Heimweh zog mir durch die Brust. Vielleicht hatte ich am Meer gelebt, in einer Hafenstadt wie Hamburg, vielleicht war ich sogar zur See gefahren. Alles war möglich. Wie ein Stück Heimkehr kam mir die Hafenrundfahrt vor, zu der ich eine der Barkassen bestieg. Ich ließ mir den Wind durch die Haare wehen, sog die Hafenluft ein, blickte wie ein Zwerg an den haushohen Schiffsrümpfen empor, die in den Docks noch riesiger erschienen als sonst.
Ich hatte das Gefühl, dass ich gerade mehr über mich erfuhr, als mir Worte hätten sagen können. Da war eine tiefe Sehnsucht nach Leben in mir, nach Freiheit, nach Abenteuer, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was das bedeutete.
Nach der Rundfahrt kehrte ich in Natalies Wohnung zurück. Sie war schon da und freute sich.
»Ich musste ins Büro, aber
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