Mainfall
Merkwürdiges. Ich hatte in meiner üblichen Verkleidung auf meinem Thronsessel Platz genommen, als ich unter den Zuschauern eine junge Frau entdeckte, die ich kannte. Sie saß in der ersten Reihe und lächelte mich an. Ich lächelte unwillkürlich zurück. Ich kannte ihr Lächeln, kannte ihren schwarzen Bubikopf, der ihr zierliches Gesicht mit der kleinen Stupsnase einrahmte. Ich kannte ihre schönen Beine, die in schwarzen Lackstiefeln steckten – ja, ich kannte sogar ihr Jeanskostüm mit den silbernen Knöpfen. Aber woher kannte ich sie? Es fiel mir nicht ein. Trotzdem: Zum ersten Mal konnte ich mich so gut an jemanden aus meiner Vergangenheit erinnern. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte mich sofort mit ihr unterhalten. Aber das ging natürlich nicht. Zuerst musste ich Audienz halten. Die Kinder warteten wie üblich auf meine Geschichten und hätten Privatgespräche sicher nicht verstanden.
So erhob ich mich, grüßte die kleinen Zuschauer mit meinem Zepter, stellte mich als König von Aschaffenburg vor und begann mit den Geschichten. Die junge Frau in ihrem Jeanskostüm hörte sehr interessiert zu. Manchmal kam es mir so vor, als ob sie schlecht verstand. Dann zog sie ihre Stirn in Falten, dachte krampfhaft nach und sah mich fragend an. Die Kinder saßen auch an diesem Sonntag mit offenen Mündern da. Sie verschlangen die Geschichten wie immer. Ich selbst allerdings hatte Mühe, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken kreisten um diese junge Frau, die ein Stück meiner Vergangenheit zu sein schien, sie schlugen Purzelbäume in meinem Hirn, versuchten herauszufinden, woher ich diese Frau kannte – jedoch ohne Erfolg. Zum Ende der Audienz gab ich wie üblich Autogramme, schrieb meinen Namen auf Prospekte und auf Postkarten, die es sogar mit meinem Bild gab.
»Hallo, Bertram«, grüßte mich endlich die junge Frau.
Straßburg, schoss es mir durch den Kopf. Sie musste aus Straßburg sein, da sie mich Bertram genannt hatte.
»Hallo«, sagte ich, denn mir fiel ihr Name nicht ein.
»Können wir uns unterhalten?«, fragte sie auf Französisch. Sie sprach perfekt Französisch.
Ganz automatisch sprach ich jetzt auch Französisch, sodass mich einige Kinder und Eltern, die noch um uns herumstanden, ganz seltsam ansahen.
»Komm mit«, sagte ich zu ihr. »Ich muss noch zu meinem Turmzimmer. Oskar wartet dort.«
»Du hast Oskar noch?«, wunderte sie sich.
»Er hat mich aus dem Main gerettet«, sagte ich und löste damit noch größere Verwunderung bei ihr aus.
Sie kannte Oskar, dem ich offensichtlich seinen richtigen Namen gegeben hatte. Wahnsinn! Die Tür zu meiner Vergangenheit schien etwas weiter aufgestoßen zu sein, eine Tür zur Gegenwart, eine Tür in mein neues Aschaffenburger Leben.
Auf unserem Weg zum Turmzimmer zogen wir natürlich einen ganzen Schwarm von Kindern hinter uns her, die mich begleiten wollten. Sie drängten sich um mich. Ich fühlte ihre kleinen Hände an meinem Mantel, die zaghaft den roten Samt befühlten. Ich sah leuchtende Kinderaugen, die meine Krone aus der Nähe betrachteten. Ich hörte die Kinder flüstern: »Ich glaube, er geht zu seinem Zimmer. Dort schreibt er die Geschichten.« Eine knisternde Spannung lag in der Luft. Diese Begeisterung meiner kleinen Anhänger war so wunderbar, dass ich sie niemals mehr missen wollte.
Beim Turmzimmer hob ich die goldene Kordel von ihrem Haken, öffnete den Durchgang, ging zu meinem Arbeitsplatz und hängte die Kordel wieder ein. Oskar schob seinen kleinen Kopf mit den großen Dackelohren aus seinem Körbchen, sprang auf, wedelte mit dem Schwanz, kam auf mich zu, hüpfte an mir hoch und begrüßte mich. Dann geschah das Unglaubliche: Er streckte seine Nase in die Höhe, ich sah, wie die kleine dunkle Nasenspitze sich schnüffelnd in der Luft bewegte, er machte eine Kehrtwendung und stürzte sich auf die junge Frau aus Straßburg, die zwischen den Kindern hinter der goldenen Kordel stand.
»Oskar, mein Süßer«, freute sie sich.
Man konnte sehen, dass der Hund sie kannte. Er sprang an ihr hoch und wedelte wie ein Weltmeister mit dem Schwanz.
Die Kinderschar beobachtete währenddessen mich. Ich wusste, dass sie jetzt noch etwa eine Viertelstunde zuschauen würden, bevor es ihnen langweilig wurde. So lange musste ich noch König bleiben und Geschichten an meinem Sekretär schreiben, erst danach konnte ich mich umziehen.
Endlich war es so weit. Ich legte meine Krone auf den Tisch mit der Marmorplatte, warf den purpurroten Mantel
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