Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
will da hin!“, sage ich fest. „Nach London. Ich werde mir die Sau schnappen! Und du wirst mir dabei helfen!“
„ Geil!“, findet Josch. Er lacht, und ich lache mit.
„ Mama!“, ruft er unvermittelt.
Ich erschrecke. Erzählt er seiner Mutter jetzt, dass ich irre bin? Drei Sekunden später steht sie in der Türe:
„ Ja, Liebling?“
„ Gehst du für mich zum Reisebüro und holst Prospekte über London?“
„ Gern, Liebling!“ Und weg ist sie wieder. Josch grinst:
„ Seit mein Vater abgehauen ist, kriege ich alles, was ich will.“
Ich spitze die Lippen und nicke anerkennend. Josch denkt mit.
Wir sind beide etwas erschöpft vom vielen Planen. Ein paar Runden
Summer Games
bringen uns wieder auf Trab. Als ich beschließe, zu gehen, ist Josch’s Mutter noch nicht zurück. Er bringt die Prospekte morgen mit zur Schule, sagt er. Josch ist eigentlich schwer in Ordnung. Trotzdem bin ich froh, dass niemand mich sieht, als ich aus seiner Haustür trete. Die Kindheit ist ein Minenfeld.
Ich lasse die Beine unter dem Küchentisch baumeln und schaue durch das Fenster über den Hof in den Garten. Meine Mutter kommt den Kiesweg am Teich entlang. Sie trägt einen weißen Kittel und hält ein blaues Plastiksieb in den Händen. Die Hoftür schleift beim Öffnen über den Boden, wie sie es tut, solange ich denken kann. Sie ist so alt und aus der Form geraten wie das ganze Haus und vielleicht wie das Leben seiner Bewohner selbst. Meine Mutter betritt die Küche. Sie geht hinter meinem Rücken lang und streicht mir beiläufig durchs Haar. Ihre Hände riechen nach Erde. Polternd lässt sie die Kartoffeln in die Spüle kullern. Ich blättere in meiner BRAVO, die sie mir vom Einkaufen mitgebracht hat. Ich werte das als Friedensangebot. Bruce Springsteen ist auf dem Titel. Unvorstellbar. Ich liebe diesen Mann. Er ist eine der wenigen Konstanten in meinem Leben. Bis heute. Also bis demnächst eigentlich. Vielleicht ist das hier der Moment, in dem diese Liebe erwachte. Aber eigentlich ist das ja schon längst geschehen. Oder? Von Zeitreisen wird einem ganz schummrig, wenn man zu viel drüber nachdenkt. Meine Mutter singt verträumt einen Schlager mit, der im Radio läuft. Unglaublich. Wir sind in 1985. Ein Jahr nach Springsteens Meisterwerk
Born in the U.S.A
singt die ganze Welt den Refrain von
Darlington County
. Der Text?
Shalalaa Shalalalala
. Bitte aus voller Kehle grölen. Doch in dieser Küche, in diesem Haus, in diesem Dorf singt man
Am weißen Strand von Sant Angelo
von G. G. Anderson. Da muss man ja schräg draufkommen. Wenigstens erklärt mir das, warum ich, wenn ich richtig betrunken bin, unkontrolliert Textzeilen alter Schlager rezitiere, die meinem Tagesbewusstsein völlig fremd sind. Aber das liegt noch in weiter Ferne.
Ich habe Dreck im Haar. Als ich den Kopf senke, rieselt er in Springsteens grinsendes Gesicht. Das rote Stirnband und die Jeansweste, die er auf dem Bild trägt, sehen jetzt wirklich nach Arbeiterklasse aus. Dreckig. Meine Mutter wäscht die Kartoffeln unter fließendem Wasser. Sie sind so schmutzig wie ihre Hände. Ich nehme die BRAVO und klopfe sie mit der Kante auf den Tisch, sodass der Dreck hinabfällt. Das Geräusch macht meine Mutter aufmerksam.
„ Was macht du denn da wieder?“
Dieser nörgelnde Tonfall. Sie greift nach dem Spültuch, mit dem bei uns alles sauber gewischt wird. Mein Gesicht, wenn mir nach dem Frühstück Marmeladenreste in den Mundwinkeln kleben, und jetzt der Tisch.
„ Du machst nicht viel Gescheites heute“, sagt sie beiläufig. Das macht mich wütend. Habe ich mir Dreck ins Haar geschmiert? Ich würde gern den Sender wechseln. Nicht nur den im Radio. Liebe Hörerrinnen und Hörer, hier ist Radio Muttertier. Wir spielen für Sie rund um die Uhr immer das gleiche Lied. Viel Vergnügen. Sender und Empfänger. Ich frage mich, wer von den beiden hier gerade nicht richtig funktioniert?
Der Dreck ist verschwunden. Vielleicht nur zum Spaß wischt meine Mutter mir mit dem Spültuch durchs Gesicht und wendet sich kichernd ab.
„ Hey!“, protestiere ich. Ich bin erschrocken und unglaublich angeekelt. Aber meine Mutter hat mich schon ausgeblendet. Sie singt und schält die Kartoffeln mit dem verträumten Blick eines Teenagers.
Mein Vater lehnt sich über den Fernseher, um an die Anschlüsse auf der Rückseite des Apparates zu gelangen. Ich starre auf seinen Hintern und bemerke das kleine rote Schild an der Gesäßtasche seiner Jeans.
Levi’s 501
. Wieso
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