Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
auf
dich herab. Nur so ist das nur hier. Und nur du siehst es so, siehst das satte
Grün der Blätter, weil die Evolution entschieden hat, dass die Pflanze diese
Wellenlänge nicht brauchen kann. Und es ist egal, wie eng dir dein Zuhause
manchmal erscheinen mag. Auch wenn die Häuser dich des Nachts kritisch zu
beäugen scheinen, aus mit Rollladen halb verhüllten Fenstern, in denen sich das
Laternenlicht bricht, sodass sie funkeln wie Kiesel im Mondlicht. Auch wenn sie
mit den Jahren enger zusammenrücken, um dir den Weg hinaus zu versperren – ihr
kennt euch und seid per du. Sie haben dich aufwachsen sehen. Du siehst, wie der
Zahn der Zeit sie langsam zermahlt. Das blüht dir auch, mein Freund! Aber noch
nicht jetzt. Denn jetzt wird Mittagessen aufgetischt. Und da spricht man nicht
vom Tod. Blumenkohl und Kartoffeln. Und Fleisch, sonst ist es gar kein Essen.
Spargel nur in den Monaten mit i . Und weil um diese Zeit im Fernsehen
noch kein Programm gesendet wird, kann man sich ja auch gleich unterhalten.
Darüber, wie der Tag bis zu diesem Augenblick so gelaufen ist.
Es ist
nirgends
besser als
zuhause
. Wenn dem so
ist, verdammte Scheiße – wo ist es denn bloß, dieses Nirgends?
Die parkenden Autos verströmen
einen Geruch von Öl und heißem Blech. Die Bürgersteige sind gepflegt. Die Blumen
auf den Fensterbänken sind gegossen.
Das Reisebüro liegt gegenüber der
Kirche, nah beim Jugendheim, dem Kriegerdenkmal und der Pommesbude. Der
Kirchplatz ist von hohlen Bäumen gesäumt, deren Äste wie mahnende Zeigefinger
nach oben wachsen.
Auf meinem Weg grüßen mich viele
Leute. Junge und Alte. Manche sogar mit Namen. Andere nur so, weil auf dem Dorf
ja eigentlich jeder jeden zumindest vom Sehen her kennt.
Ein Glöckchen klingelt, als ich das
Reisebüro betrete. Es ist ein kleines Ladenlokal. Alles ist sehr unaufgeräumt.
Pappaufsteller und Broschürenständer stehen kreuz und quer, liegen zum Teil
schräg an der Wand oder gegen Regale mit Aktenordnern gelehnt. Vor Kopf steht
ein Schreibtisch. Dahinter ein unrasierter Mann mit dunklen Locken. Er blickt kurz
auf, als er die Türglocke hört, blättert dann aber weiter in einem Katalog.
„Hallo“, sage ich.
„Was kann ich für dich tun, Nori?“,
fragt er nicht unfreundlich, ohne mich anzusehen.
Ich bin überrascht, dass er meinen
Namen kennt. Auf meiner Seite des Schreibtisches stehen zwei Plastikstühle.
Unaufgefordert setze ich mich. Auf dem Schreibtisch zwischen allerlei
Papierkram entdecke ich ein Namensschild. Antonio Berlucci, Inhaber.
„Ich hätte gern Broschüren über…“
„Immer raus mit der Sprache, junger
Mann“, unterbricht er mich.
Die Türglocke bimmelt. Herr Berlucci
schaut von seinem Katalog auf, wirft ihn auf den Schreibtisch, kommt
schwungvoll auf die Beine.
„Frau Janssen.“
Er klingt begeistert, breitet die
Arme aus wie Hans-Joachim Kulenkampff. Ich schaue über meine Schulter. Frau
Janssen ist eine alte Dame, Mitglied des Silberpudelklubs. Schneeweiße Haare,
fein dauergewellt, dazu ein beigefarbener Mantel. So sieht man als alter Mensch
in den achtziger Jahren aus. Das scheint irgendwo vertraglich geregelt zu sein,
denn diese Uniform trägt jeder spätestens ab dem siebzigsten Lebensjahr. Frau
Janssen geht gebückt, lächelt ein morsches Dritte-Zähne-Lächeln, und der charmante
Herr Berlucci führt sie zu dem freien Stuhl neben mir.
„Du hast doch Zeit“, nickt er mir
zu.
Das war keine Frage. Ich verdrehe
die Augen. Herr Berlucci schwebt um den Schreibtisch zu seinem Stuhl.
„Wie geht es Ihnen“, fragt er,
betont deutlich artikuliert und laut.
Nicht fragen , schießt es mir
durch den Kopf. Zu spät! Schon wimmert sie los. Hier zwickt es, da knirscht es.
Der ist tot, der bald auch, diese-jene-welche sind im Krankenhaus. Herr
Berlucci lehnt sich vornüber, stützt die Ellbogen auf den Schreibtisch, und
nickt ganz interessiert. Ich warte ab, denn es ist eine der schwersten Sünden,
Erwachsene zu unterbrechen. Unabhängig davon, welchen Unsinn sie faseln.
Vielleicht kann ich vorsichtig auf mich aufmerksam machen. Ich hebe den
Zeigefinger, ganz sachte und unaufdringlich. Herr Berlucci macht eine
Entenschnute und eine beschwichtigende Handbewegung in meine Richtung. Frau
Janssen scheint mehr Tote als Lebende zu kennen. Ich bald auch, wenn ich noch
länger hier sitze. Es arbeitet in mir. Wieso bin immer ich der Trottel, der
sich hinten anstellt? Den Letzten beißen doch bekanntlich die Hunde. Die
Proleten, die
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