Mal Aria
Selbst der fahle Geruch des Reis brannte in ihrer Speiseröhre. Sie würgte, zuckte, rang um Luft, bis ihr Tränen in die Augen stiegen. In einer Fontäne platschte das Malheur auf den Boden. Was kam da aus ihr heraus? Sie aß ja nichts. Es roch säuerlich. Der säuerliche Urgrund. Ein Gefühl des Ekels und der Befreiung. Etwas zutiefst Lebendiges. Sie erbrach sogar das Wasser, das Carl und Ana ihr mit einem Teelöffel einflößten. Ihre Rolle sah vor, es immer wieder zu versuchen, manchmal stumm den Kopf wegzudrehen. Man kannte diese Szenen aus Filmen, sie waren so vertraut und anwendbar.
Im Nebenzimmer hörte sie, dass Carl und Ana, ihre engsten Freunde, über sie sprachen. Ihre Gesichter aus dem Nichts über dem ihren. Die Blicke hatten etwas Ermittelndes, Unsicheres, Mitleidiges bekommen. Sie galten nicht mehr ihr, sondern etwas, das sie darstellte. Dabei waren sie ihr so nah wie nie zuvor. Sie war ihnen so dankbar. Einmal wachte sie deshalb mitten in der Nacht auf: aus Dankbarkeit. Sie machten ihr Wadenwickel, legten die Hand auf ihre Stirn, ihre Wange. Umarmkommandos. Sie rückten eng zusammen. Innen wuchs die Entfernung.
Sie dachte an das Rio draußen. Wellenreiter, Bikinimädchen, Eisverkäufer. Absurde Figuren. Der Sand, der so glühte, dass man nicht barfuß laufen konnte. Sie sah den heißen Wind, er wehte die Prudente de Moraes hinunter, bestärkte die Feuertöpfchen der Garota de Ipanema, über denen das Fleisch brutzelte, streifte die Hände des Popcorn-Verkäufers, rollte die Visconde de Pirajá hinauf, glitzerte in der Elvis-Frisur ihres
Porteiros
, verewigte sich mit zwei untertellergroßen Flecken unter seinen Achseln, stockte kurz im Aufzug und verfing sich schließlich im rauschenden Ventilator dieser Wohnung – dort hing ich, versteckt in einem Winkel im Auge des Orkans, wo Ruhe herrschte.
Was war meine Rolle? Überbringerin der Nachricht, Werkzeug, Kurier, Geißelbunker, Unsichtbare, Allwissende, Mörderin, Retterin? Unter ihrer Haut schimmerten die bläulichen Adern wie die zugefrorenen Nebenarme eines Flusses. Ich könnte sie nochmal stechen, an einer prominenten Stelle, ins Gesicht, volles Risiko, damit alle es sahen, auf einen, auf
den
Gedanken kamen. Und wenn schon, sie würden doch nur den Stich einer Dengue-Mücke darin erkennen.
Ich werde kein Blut mehr saugen, nie wieder. Ich werde die Dämonen nie wieder irgendwohin mitnehmen. Sie war die Letzte. In ihr blieben sie.
Wir waren so eng miteinander verbunden, wie man es nur sein konnte, wir waren für unser restliches Stück Leben in dem Kreis eingeschlossen – die Natur trennt nicht, sie verbindet, knüpft ihre Knoten, wo sie kann, und sei es durch den Tod.
Manchmal war es, als schaute sie mich an. Aber sie sah mich nicht. Selbst wenn, was würde das wohl bedeuten? Sie würde ihren Freund bitten, mich zu erschlagen. Nicht mehr, nicht weniger. Auch wenn Carls Gesicht sicher eine schöne Nervenkitzel-Geisterbahn zustande brächte, mein Plan sah etwas anderes vor.
In dem Zimmer gab es nur eine Sache, die leicht genug war, um sie zu transportieren.
Der gelbe Staub, der aus einer Tulpe von dem Frühlingsstrauß gefallen war. Behutsam nahm ich ihn mit meinem verdammten Stechrüssel auf, nur wenige Körner, vorsichtig, ich flog so langsam wie möglich, um nichts von der kostbaren Fracht zu verlieren. Steuerte nach links, landete auf dem Fensterbrett. Nun begann ich Staubkorn für Staubkorn aus meinem Taktstock fallen zu lassen, mit seiner Spitze schob ich die Körner tastend vor mir her und begann mit der Arbeit, den ersten Buchstaben des Wortes zu formen, das ich schreiben wollte: ein M. Die Längsstriche zehnmal so groß wie ich. Es dauerte, es musste hier und da korrigiert werden, aber es ging. Ein M stand da, ein stolzes M, ohne Zweifel. Ich würde das ganze Wort schreiben, ganz egal, wie lange es dauerte, wie viel Anstrengung es mich kostete. Carl oder Ana würden es lesen, den falsch eingeschlagenen Weg begreifen, den Irrtum auflösen. Meine Euphorie reichte bis zum dritten Buchstaben, dem fatalen.
*
Der Vater auf der Eckbank. Wie er beim Abendbrot Augustinus zitiert: »Ich liebe die Heißen oder die Kalten, die Lauen spuck’ ich aus.«
Das war sie jetzt. Ein heißer oder ein kalter Mensch.
Bis zum fünften Tag sah sie noch klar. Die Blume, den Tisch, das Muttermal auf Carls Wange. Sie konnte sich gut zureden. Sie konnte es verstehen, wenn Carl ihr etwas aus dem »Oblomow« vorlas. Sie schlief. Sie träumte auch. Aber nun
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