Mal Aria
träumte sie nicht. Sie war wach. Es war auch kein Übergang, keine schwammige Wirklichkeit, keine Zimmerdecke, die auf sie zufällt. Diese Bilder waren klar wie ein Film. Sie fieberte nicht, sie schwitzte es aus. Ein Speichelfaden tropft von der rissigen Lippe. Augen zu, dahinter stülpt einer den Schädel nach außen. Farben werden Gestalten. Hinter ihren geschlossenen Augen marschieren Soldaten. Ein Soldat löst sich aus dem martialischen Ganzen der Gruppe, dreht den Kopf zu ihr. Seine Augenhöhlen sind leer. Schnitt. Seine abgehakte Nase vor ihrer. Er brüllt sie an. Sie wirft den Kopf im Kissen zur Seite, er bleibt vor ihren Augen. Schreit wie ein zu Tode gereiztes Tier, sie hält sich die Ohren zu. Der Lärm kommt von innen. Schnitte, wie von einem klackernden Messer vollführt. Sie kann nur wenige Bilder fassen. Zu schnell, viel zu schnell. Wenig Wiederkehrendes, Erkennbares. Stimmen flüstern, nicht zu verstehen. Gesichter zerfließen, fließen ineinander zu Fratzen, Zahngefletsche. Münder beschimpfen sie. Was hat sie getan? Zurückspulen. Von vorne. Zurück. Von vorne. Piratenschiffe, schwarze Holzbäuche, ziehen vor ihr auf dem Meer vorbei. Wo ist sie? Verhaken im Raum verboten. Programmschwerpunkte. Immer wieder Piratenschiffe. Einmal hebt sie die Hand, will sie berühren, fasst ins Leere. Bitte, aufhören! Wann hört es auf? Hört es denn auf? Sie drückt den Daumennagel in ihren Finger, spürt keinen Finger, keinen Nagel, die Bilder im Kopf überwältigen sie. Immer wieder Teddybären auf Galeeren. Sechs, sieben Tage lang begleiten sie Stoffbären auf Booten. Sie rudern und rudern, mit ihrem Dauergrinsen, den reglosen Gesichtern. Sie rudern durchs dunkle Meer. Ein Teddybär schwingt die Peitsche. Später wird der Beobachter im Kopf hysterisch lachen: Teddybären auf Galeeren, wie absurd. Aber jetzt ist kein Beobachter da. Jetzt sind nur Teddybären da. Das Ich ist abgeschaltet. Das Band zu Geist und Körper zerrissen. Das, was nach diesen Stunden, jeden Tag, als Frage im Raum und in ihr stehenblieb, eine Frage, die nachhallte, in ihr und im Raum, wie ein verstörendes Echo: Wenn der Körper nicht mehr da ist und der Geist auch nicht mehr, was bleibt dann noch übrig?
5 .Tag
Ich weiß nicht, wie erschöpft ich war. Vielleicht wäre es für euch so, als hätte ein Blinder den Mount Everest bestiegen, ohne Proviant, in Stoffturnschuhen. Ich hatte das M, ich hatte das A, nun kam der dritte von insgesamt sieben Buchstaben. Es blieb nicht viel Zeit, jeden Augenblick konnten Ana oder Carl hereinkommen, ihr etwas zu trinken geben – oder es versuchen – und das Fieber messen (Kälte maß man seltsamerweise nie). Ich riss mich zusammen, flog zum Blumenstrauß. Unter den Blüten lag kein einziges gelbes Staubkorn mehr. Kein einziges, weit und breit. Ich hatte alle aufgebraucht. Mein Gott, was sollte ich tun. Mir blieb nichts anderes übrig, als direkt zur Quelle zu fliegen, aus der Blüte den Staub zu bergen. Wie eine drittklassige Biene stocherte und bohrte ich, rutschte mit den langen Beinen von der Blütenwand ab, bis ich endlich genug aufgeladen hatte, um das L zu schreiben. Ein gerades, klares L. Jeder Idiot konnte lesen, was da stand. Gerade, als ich mit dem waagerechten Strich fertig wurde, ging die Tür auf.
Carl kam herein, ohne anzuklopfen, ohne das geringste Zögern. Viel zu früh. Zu spät. Vielleicht würde es ja reichen. Es musste reichen, wenn er intelligent war, und er war es, würde er die drei Buchstaben, die schon ein Wort bildeten, in seinem Kopf vollenden. MAL . Schlecht, Böse. Nur ARIA , die Luft, fehlte noch. Carl ging nicht wie sonst zu ihrem Bett, sie schlief gerade, sondern schlenderte zum Fensterbrett, er kam direkt auf mich zu. Was für ein Glück, gleich würde er es lesen, er würde es wissen, die Geißeln müssen sterben. Nur noch zwei Schritte, vor seinen Augen das leuchtende Gelb. Mit einem festen Ruck öffnete er das Fenster.
Ein einziger Windhauch, und alles flog davon, wirbelte in tausend Stückchen durch den Raum. Meine Nachricht löste sich in Luft auf.
Was muss ich tun, damit ihr mich erkennt? Wie muss ich mit euch sprechen, damit ihr mich versteht? Begreift ihr es nicht. Sie stirbt an der Luft.
*
Eine große Entdeckung beginnt immer damit, dass sich jemand nicht zufriedengeben will mit dem, was er weiß oder nicht weiß. Manchmal sind auch Glück oder Zufall im Spiel. Im Falle von Charles Louis Alphonse Laveran spielte jeder dieser Faktoren eine Rolle, als er
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