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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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Oma die Karotten aus der Erde zog. Wie es nach Rohrnudeln duftete in der Küche. Und wie kalt es war im Schlafzimmer.
    Manchmal hörte die Oma das Böhmerwaldlied. Nicht weil es gespielt wurde. Sie hörte es in ihrem Kopf. Ein Junge singt es, sagte sie, ein paar Stockwerke über ihr. »Oma«, sagte Carmen einmal zu ihr, als sie traurig auf dem Sofa saß, der Opa schon unter der Erde, »Oma, sollen wir mit dir mal in den Böhmerwald fahren?« »Nein.« »Aber du wolltest doch da immer hin, es ist doch deine Heimat.« »Der Böhmerwald«, sagte die Oma und schaute ihr in die Augen, »der ist da oben.« Sie deutete mit dem Finger in die Luft. Den ganzen Böhmerwald, wo der Opa bei ihr fensterlte, sie das erste Mal küsste, diesen Böhmerwald hatte er mit in den Himmel genommen.
    Jetzt lag sie hier, und ihre Oma versuchte zu Hause zu sterben. Wie absurd das war. Wie weit weg. Wie gerne sie ihre raue Arbeiterhand halten würde. Dabei wussten sie zu Hause noch gar nichts. Niemand sollte sich aufregen. In drei Wochen würde sie ja zu Hause sein. Sie hatten doch alles im Griff, die Ärzte.
    Noch schützte ich mich, so gut es ging, vor ihren Gedanken. Ließ nicht alles, was sie erlebte, zu meinem Erleben werden. Wehrte mich gegen das (ein Gefühl?), was ich aus meinem Magen aufsteigen spürte. Ich wollte es ignorieren, wie man einen Bettler ignorieren will. Mich auf die Geißeln konzentrieren. Sie waren das, was nicht sterben wollte in ihr.
    Jeden Tag, den ganzen Tag, sah ich sie an. Sah, wie sie sich veränderte. Die rosige Haut dünn über die Knochen gespannt. Bald kannte ich jeden einzelnen ihrer Atemzüge. Der bebende, schnelle Atem im Fieber. Das Aussetzen des Atems beim Frieren. Der ruhige, schwere Atem im Schlaf. Wenn sie schlief, saß ich auf ihren Wangenknochen. Das Lid eine fleischliche Decke über dem Auge. Ihr Schweiß klebte an meinen Beinchen.
    Hörte sie das Dröhnen des Weltraums. Sah sie sich von oben, fern der Erde, hineingefallen, verloren zwischen Gebirgen, Meeren, Wüsten, Eisflächen und Wäldern. Sah sie sich von innen, die Schlachten zwischen Blutzellen und Parasiten auf offenem Feld. Die millionenfache, blindwütige, aus eigener Kraft nicht mehr aufhaltbare Zerstörung. Was blieb von ihr übrig, wenn sie sich so sah.
    Alles, worauf sich ihr Wünschen richtete, war der wärmende Zustand der Gesundheit; die Erlösung, das Nach-Hause-Kommen. Wie eine Schablone war sie aus dem Papier des Lebens herausgeschnitten worden, nur, um schnell wieder an derselben Stelle eingefügt zu werden. Es gab kein dahinterliegendes Papier. Sie glaubte Arzt Nr.  2 , der Arzt Nr.  1 bestätigt hatte. Es fühlte sich gut an, sich dafür zu entscheiden, ihm zu glauben. Ja, sie hatte ihre Diagnose.
    Jedes Glück, aber auch jedes Unglück beginnt mit einem Ja.
    Ja sagte ich zu ihrem Blut. Ja sagten ihre Blutzellen zu den Geißeln. Ja sagte sie zu ihrer Diagnose.
     
    Die Diagnose ist der Große Vereinfacher, weil sie den lebendigen, denkenden Zweifel unter den Teppich kehrt; weil sie die Krankheit verortet. Nicht der Körper ist krank, nur der Blase, der Niere, dem Magen oder der Leber geht es schlecht. Es geht nicht um Leben und Sterben, es geht um die Leber.
    Es ging also um Dengue. Alles würde bald gut werden. Nur der anhaltende, sich einnistende Schmerz in ihrem Kopf und das, was in ihrem Körper vorging, ließen sie manchmal daran zweifeln. Wie ein Tintenfisch streckte etwas seine Arme nach allem aus, saugte sich daran fest, es zwang sie hinab in die Tiefe. Alles Schwere, Mittelmäßige, Klare, Feste, Gutmütige war weg.
    Es hatte sich eine seltsame Trennung vollzogen. Zwei Gesunde, eine Kranke, eine Mücke. Wie in einem Theaterstück mit dem Titel »Alles wird gut« hatten alle ihre Rollen eingenommen. Als wüssten alle, was sie zu empfinden und zu tun hatten.
    Das Denken ist niemals identisch. Die Ansprüche, Hoffnungen, Erwartungen, Ängste, Begrenzungen sind niemals identisch. Trotzdem sind alle in stillem Verständnis einander zugewandt.
    Zur Rolle des Gesunden gehört, dass man dem Kranken kindliche Anweisungen erteilt.
Iss. Trink. Deck dich gut zu.
Der Kranke soll immer »eine Kleinigkeit« essen. Diese Kleinigkeit war das, was blieb. Carl brachte ihr Reis und hielt ihr den Löffel hin.
Iss.
Sie konnte nicht. Vielleicht wenn er den Reis in der Pfanne … Er briet ihn.
Iss.
Sie konnte nicht. Vielleicht wenn der Reis nicht so nach nichts schmeckte … Er streute Salz darauf.
Iss. Du musst essen.
Es ging nicht.

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