Mal Aria
Wachsen der Haare, die leisen Stimmen am Telefon, der schnelle Herzschlag. Das Leben fließt durch die Lamellen, und nirgendwo kommt neues herein.
Ich flog zu ihr. Behaarte Beine auf steifem Krankenhemd. Meine Glieder, die Palpen, die Flügel spiegelten sich in dem klaren Grün ihres Auges. Sah sie mich? Niemals würde sie mich sehen. Ihr Auge, das nicht aus vielen einzelnen Augen komponiert war, wie meines, sah nirgendwo hin. Es waren die Pupillen eines Betrunkenen, der nach innen schaut. Außen keinen Halt mehr findet.
Die Erwartung des Kranken an sich selbst, die Erwartung der anderen heißt: Du musst gegen die Krankheit kämpfen. Wie soll das gehen, gegen sie kämpfen? Kommt nur her, ihr kleinen Einzeller, ich zwinge euch nieder, mit der Macht meiner Gedanken. Ihre Gedanken: Das waren Ameisen zwischen den Fingern des Riesen. Man muss mit der Krankheit gehen, ihrer Geschwindigkeit folgen, sich auf sie einstellen, das Segel in den Wind richten, sich von Pol zu Pol treiben lassen. Erst wurde es kälter und kälter und kälter. Dann wurde es heißer und heißer und heißer. Eine Polarexpedition, eine Saharadurchquerung, im zweistündigen Wechsel, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Eine Mücke, ein Stich hatte sie um die ganze Welt gebracht.
Das Fieber. Als würde sie mit einem glühenden Schmiedblock im Arm schweben. Schwer und leicht war sie. Konnte die Luft anfassen. 42 Grad, wer heizt so gut? Was ist da drin? In ihrem Kopf blubberte heißes Wasser. Weiß schäumende Gischt. Weit aus ihrem Inneren hörte sie eine Glocke, oder war es Gesang? Hörte sie die Geißelkörperchen tanzen? Brannten sie? Hörte sie mich singen, im C-Akkord? Zwei Stunden lang schwebte sie, dann stürzte sie ab. Ihr Gehirn war leer. Der Schweiß drang aus jeder einzelnen Pore. Jede Faser lebte, und jede Faser starb. Faser für Faser. Nie zuvor in ihrem Leben war sie ihrem Körper so nah gewesen.
Das war das Komische. Er gehörte ihr nicht mehr, nicht mal in Teilen, er folgte vollkommen losgelöst seiner eigenen Logik. Traf seine eigenen Entscheidungen. Aber er brannte für sie. Das Fieber war seine Verteidigung. Für sie. Und er
wusste
, über uneinsehbare Wege, dass sich in der hohen Temperatur die Geißeln weniger schnell vermehren, weniger Zellen plündern konnten. Er wollte sie daran hindern. Also trieb er die Temperatur hoch. Er tat etwas unerklärlich Schönes für sie. Das spürte sie jetzt und wusste doch nichts damit anzufangen.
Sagt mir, womit wisst ihr Menschen etwas anzufangen? Botschaften zerstreut ihr, Symptome missversteht ihr, erkennt nicht das, was ich bin. Was war das für eine dumme Idee, mit euch zu gehen. Jetzt musste ich mit ansehen, wie ihre wertvollste Zeit verstrich. Ihr nichtsahnenden, dummen Menschen.
Warum ihr immer wieder die gleichen Fehler macht, wisst nur ihr selbst. Welchen Sinn hat es, eine Generation auf die andere folgen zu lassen, wenn ihr nicht voneinander lernt. Wenn ich könnte, würde ich euch in die Fiebergruben eurer Vorfahren stoßen, in ihrem fauligen Schlamm würdet ihr stehen, ihre ach so miasmengeschwängerte Luft einatmen. » AATU « würde ich euch in die Haut ritzen, einen tiefen weißen Schnitt darunter ziehen, erst nach einer Schocksekunde füllt er sich mit frischem Blut. Warum bleibt eine Krankheit so beharrlich? Warum sind die Geißeln so mächtig und kennen die geheimsten Zugänge in eurem Körper?
Weil sie so unsagbar alt sind, weil sie so lange mit euch leben, so viele Generationen durchschreiten, euch bis in die winzigste Zelle hinein kennen, sich ständig verwandeln.
Aber ihr habt es ihnen auch ermöglicht, mir, dem Dritten im unfreiwilligen Bunde, habt ihr die besten Bedingungen geschaffen. Ihr seid in die Wälder eingedrungen, habt sie gerodet und dabei eine Landschaft voller sonnenbeschienener Tümpel geschaffen, in der unsere Eier prächtig gedeihen. Ihr habt die Erde zu einem warmen Planeten gemacht, bald werden meine Schwärme sich wieder sehr viel weiter ausbreiten können.
Vielleicht kennt ihr den alten Spruch: Gott vergibt immer, der Mensch vergibt manchmal, die Natur vergibt nie. Ihr nehmt und nehmt und glaubt ernsthaft, es bliebe dabei. Ihr plündert die Natur, genauso wie euch die Geißeln plündern. Ist das nicht gerecht? Ihr verhaltet euch wie ein Parasit und ermöglicht dadurch einem anderen Parasiten eure Zerstörung. Die Welt ist voller Kreise. Ihr seht sie nur nicht. Sagt mir, wer schließt sie.
Und meine Patientin? Hielt das Marienfigürchen in der
Weitere Kostenlose Bücher