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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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Notärztin mitfühlend und ratlos. Weiter beobachten, den Test abwarten. Der Geruch von Alkohol, die medizinische Variante. Die Hand von Carl auf Carmens Stirn. Tropfen um Tropfen floss in die Vene. Keiner ahnte, wie tollkühn das war, das Wasser konnte sich in der gepeinigten Lunge sammeln, den Atem lähmen, sie würde im Bett ersticken.
    Ana hatte mit heißem Ohr unzählige Telefonate geführt, ihre Geschichte erzählt, um Hilfe, um Ratschläge gebeten. Sechs Ärzte hatten Carmen nun schon gesehen.
    Stellt euch vor, ihr habt Schnupfen und Husten. Ihr geht zu einem Arzt und sagt ihm:
    »Ich habe wohl eine Erkältung.«
    Und der Arzt sagt:
    »Sie haben keine Erkältung. Ihr Arm ist gebrochen.«
    »Nein, zum Glück nicht. Ich habe eine Erkältung oder eine Grippe.«
    »Wissen Sie das besser als ich? Gerade haben alle einen gebrochenen Arm.«
    »Aber bei mir liegen Sie falsch. Ich bin stundenlang durch den Regen gelaufen.«
    »Es ist der gebrochene Arm, er vernebelt Ihnen die Sinne.«
    Dann kommt noch ein zweiter, ein dritter Arzt, vielleicht werden es sogar neun Ärzte, und jeder dieser Ärzte weigert sich, eure Erkältung zu sehen. Das geht so lange, bis sich die Erkältung in eure Lunge frisst, bis ihr so schwach seid, dass ihr nicht mehr sprechen könnt und ihr den gebrochenen Arm nehmt, weil der gebrochene Arm das Einzige ist, das ihr kriegen könnt.
    Die Locken von Carl, überall dunkle Locken, die einen schwindlig machten. Eine große, gerade Nase. Ich mochte das Ernsthafte in seinen Augen, das Nachdenkliche. Vor den Ärzten stand er breitbeinig. Er lag oft neben ihr im Bett, hielt ihre Hand, wenn sie kalt war, wenn sie heiß war. Die Hand von Carl, der erste Abend, wie sie ihre Telefonnummer auf seine Hand geschrieben hatte. An ihrem letzten Urlaubstag hatte er mit seiner Freundin ein Gespräch über etwas Grundsätzliches geführt. Sie behauptete: Je mehr man über die Dinge wusste, desto einfacher wurden sie. Letztendlich verdichteten sich alle großen Themen, hatte man sich nur lange genug mit ihnen beschäftigt, zu ein paar wesentlichen Wahrheiten. Er widersprach ihr. Das Gegenteil sei wahr. Je mehr man über die Dinge wusste, desto vielschichtiger, desto undurchschaubarer wurden sie, desto dringender entzogen sie sich einer Wahrheit. Sie konnten sich nicht einigen. Sie gingen schlafen. Sie wurde von einem Stich in ihrem Kopf geweckt; einfach und undurchschaubar.
    Seine Augen waren ein trauriger See. Er sorgte sich, wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte ein Flugticket für übermorgen. In Deutschland fanden in wenigen Tagen die entscheidenden letzten Prüfungen seines Studiums statt. Ana wollte in zwei Wochen nach Hause reisen. Carmen eine Woche später. Nun schien keiner mehr weg zu können. Vielleicht war das Freundschaft, das Nicht-mehr-weg-Können.
    Aus der Küchenzeile klirrte und hallte es, das Echo eines Abwaschs. Ich drehte eine Volte. Fernanda, die 17 -jährige
empregada
, hatte die Hände im Spülbecken. Dunkle, feste Haut. Krauses Haar wie Draht. Sie trug das Schildkrötenschicksal, von Anfang an alt auszusehen. Ein meist mürrischer Blick. Man könnte sie glatt für den
garoto pretinho da bacabeira
halten. Nur schlug sie niemanden zu Boden. Im Gegenteil. Sie linderte das hohe Fieber, indem sie der Kranken einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schüttete. Und ich beobachtete sie ein paarmal dabei, wie sie etwas Außergewöhnliches tat. Sie schlich in das Krankenzimmer, stellte sich an das Ende des Bettes, schlug die Decke zurück und nahm einen Fuß meiner Blutsschwester in ihre Hand. Dann drückte sie ihn mit ihrem rauen Daumen, ein paar Minuten lang. Schließlich nahm sie den anderen Fuß, drückte ihn wieder. Fernanda murmelte Verse vor sich hin, unverständlich, aber ihre Stimme, das sanfte Drücken der Füße beruhigten Carmen. Fernanda massierte die Füße. Nur weil man es tun konnte. Wo man so wenig tun konnte.
    »Was sollen wir nur machen«, sagte Ana. »Sieh sie dir an«, flüsterte sie, »sie sieht aus wie ein Gespenst.« Eine Weile sagten beide nichts, nur das Geschirr in der Küche klapperte. Eine heiße Brise wehte vom Fenster herein. Von der Haltestelle hörten sie das Rauschen der Busse, das sich nach oben schraubte, als würden die Busse nur von etwas wegfahren und nirgendwo hin. Da sagte Ana: »Fernando.« Carl schaute sie an.
    Wie ich tröpfchenweise erfuhr, handelte es sich bei Fernando um einen Freund von Freunden. Ein Arzt, ein Chirurg, der in Deutschland Medizin

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