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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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Hand, hielt aus. Dieser Glaube an das Gute hatte etwas Infantiles. Es kostete Zeit, band Energie. Alles wird nicht gut. Alles wird, wie es wird. Aber sie, ja, sie ging immer noch davon aus, dass ihr nicht ernsthaft etwas zustoßen konnte (als gäbe es hier einen Willen). Sie, die so selbstsicher über die Planken am Ariaú-Fluss geschritten war. Die Riesenfrösche suchte. Die Häuser bauen wollte, die mit ihrem Ort verwachsen. Die ein Kind vor sich sah, das halb ihre, halb Carls Züge hatte. Die noch in diesem Monat unter zwei Wasserfällen stehen wollte. Die ein Glückskind war (als gäbe es hier ein Gesetz). Die alles zu verlieren hatte, weil alles, alles noch vor ihr lag. Die glaubte, dass alles gut wird, würde man selbst nur das Richtige tun. Wie eure Vorfahren, die zum König gelaufen sind, wenn sich eine Katastrophe anbahnte, brauchte sie nur den Ärzten vertrauen.
    Go and tell the king the sky is falling down.
    Ja, was soll er dann machen, der König?
    Arme Blutsschwester, du siehst nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was hier geschieht. Dein Blick geht durchs Mikroskop, ein schlechtes noch dazu, sogar Laveran hatte ein besseres. Sein Blick war ein suchender. Bei dir findet sich nur ein Vertiefen in die ausgewählten Glaubenssätze. Ein kleiner Ausschnitt. Nichts weißt du. Nicht, dass wir verbunden sind. Nicht, was deinen Körper schüttelt. Nicht, wie die Dinge zusammenhängen. Deine Sicherheit ist eine falsche. Wenn du Glück hast, wenn dir noch etwas Zeit bleibt, wenn du schlau bist, dann nutzt du diese verrinnenden Tage, um etwas Wesentliches zu lernen. Nimm die Augen weg vom Mikroskop. Sieh, was geschieht.
    Natürlich hörte sie mich nicht. Niemand hörte mich.

6 .Tag
    Macht der Begriff des Unglücks das Glück zum Normalzustand?
    Ist es folglich Glück, auf einer Reise nicht abzustürzen, nicht zu ertrinken, nicht zu erfrieren, nicht gestochen oder erstochen zu werden?
    *
    Ich flog durch den Korridor, zwei leere Wände entlang. Kleider lagen auf dem Boden, Zeitungen, Medikamente, ein Koffer halb aus- oder eingepackt. Ihre beiden Freunde saßen an einem runden Tisch, das weiße Rauschen über ihnen. Was sich unter einem Ventilator abspielt, erscheint oft zu Unrecht lächerlich. Wie eine Szene in einem Afrikafilm. Die gleiche Weichzeichner-Wirkung hat ein Moskitonetz – erst recht, wenn dahinter ein fiebernder Patient lag. Malaria, das war die romantische Krankheit.
    Ana hielt mit der Hand ihren kleinen Mund. Carl faltete die Hände und blickte zu Boden. Es war ein furchtbarer Tag auf dem Baumwollfeld.
    Ich riskierte einen Flug. Aus rituellen Gründen flog ich links um sie herum. Wir fliegen immer links um die Menschen, links auch um die Pflanzen. Das hat keine große Bedeutung. Die Macht liegt in der Wiederholung. Nicht mehr als zwei Sekunden blieb ich vor jedem Gesicht stehen, betrachtete es. Eine Hand schnellte in die Luft. Viel zu spät! Anas Gesicht hatte selbst im Leid etwas Verzücktes, Offenes, mit so einem Ausdruck sieht ein Mensch einem neugeborenen Fohlen beim Aufstehen zu. Ich setzte mich auf ihre Perlenkette. Ein Pumpen im Hals durch die weiß-bläuliche Haut. Ana war so zart oder verletzlich wie jemand, von dem man sich vorstellte, dass er nur in einem Schokoladengeschäft oder in einer Bücherei arbeiten konnte. Sie tat beides. Morgens arbeitete sie bei Chocolatier Leblon, am Nachmittag half sie in einer Bibliothek im Centro. Der einzige Kontrast, die einzige Irritation in ihrem Wesen, waren ihre ausgeprägten, dunklen Augenbrauen, die eher nach Großwildjäger, als nach Zärtlichkeit aussahen. Ihr Geruch: dunkelrot. Sie war es, die an diesem Tag mit erstickter Stimme den Notarzt rief.
    Carmens Herz war nicht mehr an seinem Platz, es war tiefer nach unten gerutscht, der Herzschlag in die Mitte gewandert, es donnerte gegen die Wände, ihre Hände verklammerten sich, dann kollabierte sie. Weißes Gesicht auf weißer Bettwäsche. Panik, Schock, Angst mischten sich in die herannahenden Sirenen. Etwas musste geschehen. Etwas hätte nie geschehen dürfen.
    In einem Traum saß ich auf ihrer Haut und stach sie nicht. Ich flog rückwärts von ihr weg. Ein unsichtbarer Faden zog mich in das verflochtene Ganze des Waldes zurück. Sie blieb unversehrt. In der Unschärfe des Aufwachens spürte ich noch die Erleichterung. Ging es immer noch um die Geißeln? Was ging hier vor sich?
    Literweise lief die salzige Flüssigkeit durch die Infusionsnadel in ihren ausgetrockneten Körper. Die Augen der

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