Mal Aria
nirgendwo entweichen, der Raum wurde heller und heller. Ana schrie die Ärztin an, deren Gesicht ich nicht erinnere, sie müsse etwas tun. Die Ärztin schrie zurück, das wisse sie selber. Es war eine Panik, wie sie aufkommt, wenn der Schlachter im Keller das Schwein zu fassen versucht. Man musste etwas schnell zu fassen kriegen. Nur was. Nur was. Der Blutdruck von Carmen war in die Tiefe gestürzt. Im selben Augenblick hatte auch ihre Angst zu stürzen begonnen, sie fühlte nichts mehr außer frischer Angst, die über ihre Schulter strömte. Zum ersten Mal dachte sie: Was ist, wenn ich sterbe. Einfach so. Jetzt. Hier.
Sterben kann man ja überall. Auch in Rio. Man stellt sich das nur nie vor. Gestorben waren immer die anderen. Man ging vom Friedhof nach Hause, und wieder war es jemand anderes gewesen. Schon so oft, dass man sich daran gewöhnen konnte, dass es die anderen waren. Manchmal, nach so einer Beerdigung, hatte sie nachts wach im Bett gelegen und sich vorgestellt, wie ihre Freundin jetzt, in der dunklen Nacht, mutterseelenallein, in ihrem Grab, in der kalten Erde lag und nicht mehr herauskonnte. Kein einziges Mal hatte sie sich vorgestellt, wie sie selbst in der kalten Erde liegt. Natürlich wusste sie, dass sie starb. Aber sie bezog das nie auf einen Augenblick. Die Ungewissheit des Wann hatte ihr Leben getragen. Und nun, wie ein Schlag, ein Weckruf, verstand sie das Konkrete dieses Wann.
Jedes Jahr passiert ihr das Datum eures Todes. Es gibt dieses Datum schon. Den Tag, den Monat. Es gibt ihn schon. Man braucht nur noch die Jahreszahl einzusetzen. Wie oft habt ihr euren Todestag schon auf ein Blatt Papier geschrieben, als Kind bei einer Schulprüfung, auf einen Notizzettel? Wie oft habt ihr ihn gelesen, wie oft habt ihr ihn ausgesprochen? Nehmen wir an, es wäre ein 12 . April, an dem einer von euch stirbt. Hat er an diesem 12 . April, seinem Todestag, schon Sex gehabt, wie oft? Ist er betrunken oder krank gewesen? Ist er an seinem Todestag durch einen Fluss geschwommen, hat er im Sand gelegen, die Nacht durchgetanzt? Hat er an seinem Todestag jemanden Neues geküsst? Wie oft hat er sich selbst vergessen? Wie oft war sein Herz offen? Wie oft war er einfach nur da, am Leben? Welche Reihe ergibt sich schließlich aus diesen 12 .-April-Tagen? Auf welche Art und Weise sind sie rückblickend miteinander verbunden? Das Geburtsdatum würfelt einen zufällig ins Leben hinein. Das Sterbedatum ergibt sich durch einen selbst. Zufällig oder nicht. Es ist der wichtigere Tag. Der dem Leben den großen Stempel aufdrückt, ihm eine Länge und Tiefe und Schönheit gibt, indem er es beendet.
* 04 . 08 . 1977 †__.__.____
Sie lag hinter einem hellen Vorhang. Dahinter war wieder ein Vorhang, wo jemand notversorgt wurde. Dahinter wieder ein heller Vorhang. Die Nadel durchstach die zarte, gelbe Hautdecke, drang in ihre bläuliche Ader ein; die Flüssigkeit wanderte durch den Schlauch, tropfte in ihre Blutbahn. Zehn Liter hatte die Ärztin angeordnet, weil sie vollkommen ausgetrocknet war – zehn Liter Salzwasser, durch die offenen Türen ihrer Lunge. Ich atmete tief ein. Meine Beine hielten sich zitternd am Vorhang. Ihr schwacher Puls schien in meinem eigenen Körper zu schlagen. Sie murmelte Zahlen vor sich hin, 16 , 4 , 16 , 4 , 16 , 4 , 16 , 4 . Ana stand etwas abseits, sprach atemlos mit einer Freundin am Telefon. Es war von ihren Eltern die Rede, ob sie jetzt kommen mussten. Ich dachte an Carl, der im Flugzeug saß, um in die andere Richtung zu fliegen – der wohl gerade ein Hühnchen aus Zellophan rollte und von nichts wusste. Der sie vielleicht nie wiedersehen würde. Aber ich war noch da, ich konnte nicht mehr weg.
Ganz nah flog ich an sie heran, setzte mich auf ihre Nasenspitze, ohne dass sie Notiz davon nahm. Ihre Augen waren halb geschlossen, wie unter einer Plane kroch eine Träne hervor. Über die Braue lief eine senkrecht gestrichelte Narbe. Eine Pigmentfärbung auf ihrer Nase formte einen bräunlichen Stern. An einer winzigen trockenen Stelle blätterte die Haut ab, dahinter kam rötliche, frische zum Vorschein. Kein Gesicht glich dem anderen, jedes war bis in die kleinsten Pigmentierungen hinein verschieden. Wie konnte man da jemals annehmen, jemand könnte das Gleiche empfinden wie ein anderer, wenn doch schon sein Gesicht ein einzigartig lebendiges Gebilde war?
Auch meine Zeit lief jetzt schneller. Irgendwann würde es einfach vorbei sein. Mit einem Schlag. Ich hielt erstaunlich lange
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