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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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konnte sich waschen, sie konnte mit Carl auf die Straße gehen, kein Zittern. Carl, Ana, sie, alle drei waren fassungslos und froh. Was war geschehen? War überhaupt irgendetwas geschehen? Dann war es wohl Dengue und bald vorbei. »Ich verstehe das nicht. Das ist doch total absurd, erst geht es mir unglaublich schlecht, und dann bin ich auf einmal gesund«, sagte Carmen.
    »Vielleicht hat die Krankheit so eine Art eigene Intelligenz – oder Fernandos Zaubersaft hat uns allen eine Lektion erteilt«, Carl lachte.
    »Dein Flug geht heute Abend …«, sagte sie.
    »Ich weiß … Was meinst du, kann ich dich denn schon alleine lassen?«
    »Du hast ja die Prüfungen, die sind wichtig, und dann die Hochzeit deiner Schwester am Samstag … Flieg doch, es geht schon«, sagte sie, wie jemand, der sich wünschte, dass der andere ihm widersprach. Er tat es nicht.
    Sie fuhr sogar im Taxi mit ihm zum Flughafen. Begleitete ihn von sich weg. Wieder die Berge von Petrópolis, im blauen Licht gezackt. Sie standen in der Schlange vor dem Check-in.
    »Ich würde nächstes Jahr gerne noch mal wiederkommen und ein Praktikum bei Isay Weinfeld in São Paulo machen«, sagte Carmen.
    »Wer ist Isay Weinfeld?«
    »Ein Architekt, ein Verrückter, der zur Beerdigung von Queen Mum nach London geflogen ist und nach Schweden ging, weil er es in Farbe sehen wollte. Er kannte nur die Schwarz-Weiß-Filme von Bergman.«
    »Was macht er für Architektur?«
    Reden strengte sie an, das merkte sie jetzt. Sie wackelte etwas. Ein Loch, in das sie müde fallen wollte. »Das erzähl ich dir ein anderes Mal«, sagte sie. Sie konnte nicht mehr stehen, hinter ihr ein Gepäckstück. Ein Hartschalenkoffer. So saß sie auf dem Koffer eines fremden Passagiers, in der Schlange für den Flug, der ihren Freund von ihr wegbrachte.
    Der Abschied. Sie sah die Menschen nicht und nicht die Anzeigentafeln.
    Sie sah nur die Augen von Carl. Beide waren sie wie unter einer Glasglocke.
    »Wir sehen uns in drei Wochen, Cabeludo«, sagte er.
    »Ja.«
    »Mach keine Dummheiten.«
    »Okay.« Sie kannte diese Abschiede, aber dieser heute, unter der Glocke, war anders. Etwas schwang mit. Etwas ging verloren. Hatte das Leben auf der Rückseite eine Naht, und war diese Naht schlecht vernäht, konnte sie jederzeit reißen? Etwas tat mehr weh als sonst. Sie ging nicht mehr selbstverständlich davon aus, dass sie in drei Wochen bei ihm sein würde. Als er durch die Tür ging, lächelnd, winkend, zögernd, dachte sie: »Hoffentlich sehe ich ihn wieder.« Die Naht konnte reißen, das Flugzeug konnte abstürzen, und wenn er das nächste nahm, konnte auch das abstürzen. Alles konnte passieren.
    *
    Am Ende war der siebte Tag nur der Tag, an dem ihr Körper noch mal seine ganze Kraft gewaltsam bündelte, bevor ihm in der folgenden Nacht alles entglitt. Um zwei Uhr morgens rief Ana das Taxi. Es war dunkel, über dem Mond hing ein roter Schleier. Ich saß schon unten beim
Porteiro
, der über der »Kunst, verheiratet zu bleiben« an seinem Pult eingeschlafen war. Der Wagen kam, und ich schlüpfte hinein. Die Regentropfen klopften leise auf das Dach des Taxis, sie blieben einen Augenblick in ihrer einzelnen Gestalt an der Scheibe hängen, bis sie sich zu einem kleinen Rinnsal verbanden und davonflossen. Wir fuhren zum Krankenhaus. Ich erinnere nicht viel von dieser Fahrt, nur dass Ana sie im Arm hielt und dass jemand gerne ihre Hand gehalten hätte, wäre es ihm anatomisch möglich gewesen. Das blaue Leuchten des Copa D’or war schon vertraut. Dieses blaue Leuchten musste uns nun herausführen in etwas Helleres. Vorher würden wir nicht mehr weggehen.
    Wir warteten auf einer Bank im langen Gang der Notaufnahme. Vereinzelt saßen noch ein paar Menschen auf Klappstühlen in einer Reihe. Durch das Fensterband unter der Decke warf ein Baum einen schwarzen Schatten, der riesenhaft zu uns herunterschaute. Am Empfang tippte eine Frau im Zehnfingersystem auf ihrem Computer herum. Ana sagte etwas, und als Carmen sie anschaute, zerfloss das Gesicht von Ana in der leeren, beigen Wand, vor der sie saß. Es blieben nur ein paar Lichtstreifen übrig. Carmen sagte, sie sehe Ana nicht mehr. Sie konnte Ana noch hören, sie konnte ihren Arm anfassen, aber sie sah sie nicht mehr, obwohl ihre Augen geöffnet waren. Ana hatte sich in Licht aufgelöst. Jemand trug sie auf seinem Arm, schlug mit seinem Fuß die Tür des Untersuchungszimmers auf, legte sie auf eine Bahre. Es gab kein Fenster. Das Neonlicht konnte

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