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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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auf ein Tor zulief. Und das Tor fiel.
    *
    Der Grasdoktor Fernando war nichts Besonderes in der jahrtausendealten Geschichte der Malaria. Er setzte sich im Jahr 2004 an die Spitze der Ahnenreihe von Menschen, die das Leiden auf höhere Weise zu heilen versprachen, selbst wenn er gar nicht wusste, was er behandelte. Bereits die Sumerer kannten das »hektische Fieber«. Der Patient erhielt einen Ohrtampon, der mit den grünen Ausscheidungen einer Gallwespe gefüllt war. In der römischen Zeit empfahl der Naturforscher Plinius eine kleine Menge Menstrualblut in der Wolle eines schwarzen Widders einzuwickeln. Den blutigen Knäuel fügte man in ein Armband ein. Es würde ein Faden blutgetränkter Widderwolle genügen, räumte Plinius großzügig ein. Einfacher umzusetzen als sein alternativer Rat: das Herz eines Löwen zu essen. Wenige Jahre nach Christi Tod erfand man ein wahrhaft schönes Ritual gegen Malaria. Es galt, das Wort »Abrakadabra« auf Pergament zu schreiben und in jeder folgenden Zeile einen Buchstaben auszulassen, so dass sich ein umgestürztes Dreieck bildete:
     
    ABRAKADABRA
BRAKADABRA
RAKADABRA
AKADABRA
KADABRA
ADABRA
DABRA
ABRA
BRA
RA
A
    So wie das Zauberwort Zeile für Zeile einen Buchstaben verlor und einen Trichter bildete – so sollte auch das Fieber, Zeile für Zeile, aus dem Kranken herausfallen.
    Das Stück Papier musste er in einem Amulett um den Hals tragen.
    Im Norden von Deutschland vertraute man, bis ins 19 . Jahrhundert hinein, auf die magische Wirkung des Schöllkrauts, das Albrecht Dürer nach seiner Malaria wie eine heilige Ikone malte. Zu einer ungeraden Stunde ( 3 , 7 oder 9 ) gruben Helfer drei Schöllkrautpflänzchen mit der Wurzel aus und schnürten ein Bündelchen. Sie hängten es um den Hals des Patienten und warteten. So lange, bis die drei Pflanzen vertrockneten, in der Hoffnung, dass es ihnen das Fieber gleichtat.
    Ihr fragt euch sicher, woher ich das alles weiß. Und ich frage euch: Woher wisst ihr, dass ich es weiß? Habt ihr nicht Zugang zu dem gleichen uns verbindenden Wissen? Findet ihr in eurem Gehirn nicht mehr die Treppe zum Untergeschoss, die Kellertür, hinter der sich die Schätze befinden? Und die Tür des Kellers darunter? Und die Tür des Kellers darunter? Und die Tür des Kellers
darunter
 ? In mir gibt es nicht so viele Türen.
    Das Millionen Jahre alte Wissen meiner Vorfahren ist in meinem winzigen Wesen komprimiert. Das, was euch zerstreut, ist für mich einfach und klar. Ich werde euch immer einen Schritt voraus sein. Wollt ihr noch mehr Geschichten über eure Ahnungslosigkeit, eure Verzweiflung hören?
    Im 17 . Jahrhundert setzte sich in Rom aus bekanntermaßen größter Not eine Kur durch. Ein süßer Apfel wurde in drei Teile geschnitten. Auf das erste Stück schrieb man die Worte
Ave Gaspari
, auf das zweite
Ave Balthasar
und auf das dritte, ihr ahnt es schon,
Ave Melchior
. Am frühen Morgen, an drei aufeinanderfolgenden Tagen aß der Kranke je ein Stück, begleitet von drei
Vaterunser
und drei
Gegrüßet seist du Maria voll der Gnade
.
    In vielen europäischen Ländern brachten die Priester zu dieser Zeit ein Schaf in das Zimmer des Fiebernden und stellten es neben sein Bett. Die Idee war, dass das Sumpffieber vom Menschen auf das Schaf überspringen sollte. Die drei Dämonen, die auf dem Bett hockten – der eine mit einem Hammer in der Hand, der andere mit einem Eimer Wasser und der dritte mit einer Feuerfackel –, sollten sich also fortan lieber an dem Schaf zu schaffen machen. Das kann gutgehen, natürlich. Das Schaf kann das übernehmen. Alles, woran man tief glaubt, kann helfen. Das Problem war, dass die Kranken nicht die Zeit hatten, diesen Glauben zu entwickeln. Sie starben vorher.

7 .Tag
    Es regnete leise, als Carmen erwachte. Der Kopf dröhnte, wie nach einem schweren Traum; mehr nicht. Es grauste sie vor diesem Tag. Das Flugticket von Carl war für heute ausgestellt. Sie hatten es vermieden, darüber zu sprechen. Das Licht kam durch den Hinterhof, über die Lamellen und die Papageienblume zu ihr herein. Carmen setzte sich auf, horchte lange in sich hinein. War das möglich? Sie fieberte nicht, sie zitterte nicht, keine Stöße, keine Soldaten in ihrem Kopf. War sie gesund? Geheilt?
    Sie dachte an Fernando und seinen Saft. Ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit durchströmte sie. Sie zog Carl, der neben ihr lag, am Arm: »Wir müssen Fieber messen. Wo ist das Thermometer? Ich glaube, ich bin gesund!«
    Sie konnte aufstehen, sie

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