Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
Vom Netzwerk:
durch. Die wenigsten meiner Art gehen nach ein paar Wochen zugrunde, sie werden vorher schmerzlos zerstört. Aus dem Nichts ein Klatschen. Aus, vorbei. Noch lebe ich, und sie lebt. Dann sterbe ich, und sie lebt. Dann bin ich tot, und sie stirbt. Alles hat eine Richtung. Nur eine. Wie konnte man sich jemals von jemandem abwenden, wenn ohnehin alle in dieselbe Richtung gingen?
    Ich habe alles versucht und nichts erreicht. Ich konnte alles denken und nichts tun. Das Irritierende an meinem Dasein war, dass ich so viel Unheil anzurichten vermochte und gleichzeitig so begrenzt war in meinen Möglichkeiten. Schwäche und Beschränktheit existieren in meinem Mückenleib neben Macht und Stärke. Das eine hob das andere nicht auf. Ich wurde benutzt wie sie, als Träger, als Spielball der Unersättlichkeit niederer Wesen – oder höherer Natur? Ein tödlicher Stich. Ob ich wollte oder nicht. Noch lebte sie, und ich war nur der Überbringer der bösen Nachricht.
    Ist es nicht so, dass die Überbringer als Erste sterben?
    In dieser Nacht fuhr sie ein Rettungswagen aus der Stadt, er donnerte die vielspurige Avenida das Américas entlang. Durch das Fenster erkannte sie die Giebel des roten Oswaldo-Cruz-Palastes. Palmenspitzen, die sich würdevoll herabsenkten. Stromkabel, die wild durcheinanderliefen und sich verknoteten. Den dunklen Himmel, über den ein paar Lichtwolken trieben. Alles voller Himmel, wie in den hoch gelegenen Dörfern ihrer Heimat. Es dämmerte schon, als sie im Hospital Salbino ankamen, unweit des internationalen Flughafens, von dem Carl abgeflogen war. Gezackte blaue Berge durch das Fenster über ihr.
    Im Copa D’or war kein Bett mehr frei gewesen. Doch ein Testergebnis hatte man ihnen noch in einem weißen Umschlag überreicht: Dengue negativ. Nun war alles wieder ganz weit geworden. Die Wege unendlich, in die man sich verlaufen konnte. Eine Krankheit, die das Bild vieler Krankheiten vorspiegelt.
    In Rio hatten die Ärzte wenig Erfahrung mit Malaria, im Studium ein Thema in Büchern, verschwand es danach vor ihren Augen, in ihren Gedanken. Rio war nicht der Amazonas. Es war wie mit der alten Frau, die im Dunkeln ihren Schlüssel unter dem Schein der Straßenlampe sucht. Ein Mann kommt des Weges, fragt sie: »Ganz sicher, dass Sie den Schlüssel genau hier verloren haben?« Und sie antwortet: »Nein, aber nur hier kann ich etwas sehen.« Anderen Ärzten kam das M-Wort vielleicht kurz in den Sinn, doch war ihnen der bürokratische Akt zu aufwendig. Die Krankenhäuser führten die Malaria-Tests nicht selbst durch, zwei Herren in weißen Overalls mussten dafür bestellt werden, sie kamen von einer staatlichen Behörde, die alle Fälle des Landes kontrollierte und statistisch festhielt.
    Das Besondere am Urwald ist die manchmal grausame, aber natürliche Vernetzung. Alles greift ineinander. Stirbt ein Riese, reißt er alle mit in die Tiefe. Die Lianen, die ihn erdrücken, die Symbioten, die Tiere und Nester, die ihn bevölkern. Die Pilze und Bakterien am Boden warten schon, werden von ihm satt und ermöglichen das neue Wachstum. Alles hat eine Zwangsläufigkeit, eine Logik, die man in der Menschheit vergeblich suchte. In diesen Tagen griffen die Rädchen nicht mehr ineinander. Jedes Ereignis schien für sich zu stehen, jede Aussage eines Arztes war losgelöst von der eines anderen. »Wir werden herausfinden, was Sie haben«, versprach die Ärztin im Salbino-Krankenhaus. Eine Floskel zum Aufwärmen, die mit jeder ihrer Wiederholungen weiter abkühlte. Und doch blieb ihnen keine andere Wahl. Hier und jetzt nicht, nirgendwann und nirgendwo. Sie mussten weiter suchen, sie mussten mich finden. So wie mich der verrückte Engländer gefunden hatte.
    *
    Ronald Ross hatte ein Gesicht, das nicht zu seinem Gang passte. Sein Blick war fest entschlossen, aber er schlurfte, als wolle er seine Beine lieber zurücklassen. Er war groß und hager. Die Inder nannten ihn Geier. Schreiend liefen sie vor ihm davon, wenn er versuchte, sie mit einer Nadel in den Finger zu stechen. Dabei wollte er nur ein paar Tropfen Blut. Wie ich. Er war zufällig dabei, das größte Rätsel der Menschheit zu lösen. Er war dabei, ganze Kontinente für euch zu öffnen. Er war dabei, trotz all seiner Unzulänglichkeit, Millionen von Menschen das Leben zu retten. Ross gab eurem Schwarm eine neue Richtung. Er fand den Kreis.
    Ronald Ross wurde am Freitag, dem 13 . Mai 1857 , in Almora zu Fuße des Himalaya-Gebirges geboren. Sein Vater, Campbell Claye

Weitere Kostenlose Bücher