Mal Aria
blauem Rock trug), sahen so viele Menschen das Naheliegende nicht.
Ist es möglich, dass man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und dass man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot isst und einen Apfel?
Was war die Entdeckung des Engländers im Jahr 1897 wert, wenn ihr heute keine Verbindung dazu herstellt. Der Engländer ist tot. Ihr lebt.
Was war sie wert, wenn ich in einem winzigen Augenblick wieder über euch handeln kann, über euer Leben hinweg. Eure geordneten Felder, der geschnittene Rasen, die Alleen, die euch empfangen, sind rührend, weil sie euch ein Gefühl von Macht schenken; und nichts bedeuten. Kaum erhebt sich etwas aus der winzigsten Einheit der Natur, fallt ihr um. Idiotische Menschlein, die Natur nimmt nicht an euch teil, sie wird es niemals tun. Ihr steht nicht außerhalb des Zyklus. Ihr seid mitten in ihm.
8 .Tag
Mit der Nacht im Rücken waren sie im Viertel Olaria, in der Rua Catete, in der vor jedem Haus auf dem Fensterbrett eine Marienstatue steht, im Hospital Salbino angekommen. Ein kleiner Raum. Jemand legte Carmen auf eine Pritsche in die Ecke, ging wieder. Kaltes Leder, weißes Licht, helle Kacheln, der Geruch von Desinfektionsmittel. Ein Friede, den es nur im Gewahrwerden der eigenen Zerbrechlichkeit gab. Sie wusste, dass das, was sie war, hier lag. Ein Atem, der nur durch sie floss. Ein Herz, das nur für sie schlug. Mehr war es nicht. Nichts war mehr zwischen ihr und dem Leben.
Eine Milchglasscheibe, links von ihr, erst nach einigen Minuten erkannte sie Ana dahinter, schemenhaft, wie sie mit einem Mann in Weiß redete. Dunkles Gemurmel, als würden sie in eine Büchse sprechen. Da begriff sie, dass sie wieder am Anfang standen. Dass sie nichts wussten. Wo hatte sie nicht aufgepasst? Was war im Wald, was war mit dem Frosch? Was hat sie gegessen, was getrunken? Hat sie etwas gestochen, hat sie ein Tier gebissen? Sie hatte doch nichts bemerkt. Nichts. Sie musste Carl fragen.
Carl war weg.
Aber sie war jetzt in einem Krankenhaus. In einem Krankenhaus hilft einem ein Arzt mit einer Tablette, einer Spritze, einem silbernen Instrument. Nur deshalb gab es Krankenhäuser. Hier mussten sie es finden.
Im Geiste sah sie sich über die hohen Dörfer der Kindheit, die fast nur aus Himmel bestanden, vom Flughafen nach Hause fahren. Sie sah, wie sie Carl umarmte, und in ihrem Bauch zog und spannte die entzündete Sehne. Wie lange lag sie da? Eine halbe Stunde, eine Stunde? Ana, verschwommen hinter der Scheibe, wild gestikulierend. Waren die Stimmen dunkler, lauter, die Büchsen größer geworden? Sie schaute nach rechts, ein Metalltisch stand in der Mitte des Raums. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Wozu der Metalltisch? Er erinnerte sie an eine Tierarztpraxis. Und auf einmal, wie eine neue Lösung, die sie noch gar nicht bedacht hatten, wie etwas, das man tun konnte, kam es ihr in den Sinn: Vielleicht besprechen sie gerade, ob sie mich einschläfern. Ja, das wäre möglich. Die Frage ist, ob das jetzt gleich passieren würde. Sie schieben sie in die Mitte des Raums, heben sie auf den Metalltisch. Eine Spritze. Das wars. Es wäre das Einfachste. Für alle. Niemand müsste mehr eine offensichtlich unvorstellbare Krankheit finden. Niemand eine Diagnose aufstellen. Es wäre endlich vorbei. Sie spürte jetzt diesen Wunsch. Vorbei. Sie hörte die Stimme des Tierarztes:
»Es tut mir sehr leid. Aber wir ersparen ihr damit viele Schmerzen. Es ist wirklich das Beste für sie.«
»Wird es schnell gehen? Wird sie leiden?«, Anas Stimme.
»Natürlich nicht. Sie schläft einfach ein. Sie dürfen dabei sein, wenn Sie möchten.«
Carmen hört ihre Schritte, hört sie näher kommen. Die Schwingtür fliegt auf. Der Arzt tritt ein, mit ernster Miene. Ana steht ein bisschen hinter ihm, hält sich einen Finger mit der Hand. Beide schauen sie an. Sie will etwas sagen. Etwas wie: »Ich bin einverstanden.« Ihr Atem geht ruhig. Sie öffnet ihren Mund. Kein Wort formt er. Nur ein leises Seufzen. Ein paar Schritte noch, dann sind sie bei ihr, rollen sie von der Pritsche. Dann schieben sie Carmen, deren Lider langsam gelb wurden, auf Zimmer Nr. 284 .
*
Das Zimmer roch noch nach dem Schweiß des Anderen. Ein Raum, aus dem man sofort wieder heraus möchte, so klein, so angefüllt mit Krankheit ist er.
Wie hätte ich jetzt noch gehen können? Wie ein Kind, das zuerst Sturm klingelt – und dann wegläuft. Wir müssen die Geißeln
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