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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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vom Urteilsvermögen des Arztes abhängig.
    Am Nachmittag ging die Tür auf. Sie lag in ihrem Bett, das Kopfteil angewinkelt, wusste, dass es jede Minute beginnt. Wie alle vier Stunden, seit acht Tagen. Gegenüber auf dem Balkon fütterte ein Junge einen Kolibri. Grausame Vögel. Sie fressen mit gespaltener Zunge.
    Sohlen quietschten, als sie hereinkamen. Es war nicht das schnelle Quietschen der Ärzte- und Schwesternsohlen. Wer war das? Zwei Kollegen. Woher wussten sie? Sie freute sich, und sie freute sich nicht. Weil es gleich anfing.
    Die beiden arbeiteten in dem Architekturbüro an der Copacabana, der Erker im 10 . Stock. Das Mädchen mit den braunen, langen Haaren hatte ihr am ersten Arbeitstag eine
Goiaba
mitgebracht. Und dann beinahe jeden Tag eine andere Frucht. Früchte, von denen sie noch nie etwas gehört hatte. Der Kollege sah aus wie die brasilianische Version von Louis de Funès. Sie stellten Blumen und eine
Cupuaçu
auf ihr Wägelchen. Das Mädchen schlang die Arme um seine Brust. Drei Schritte rückwärts von ihr weg, der Besucherabstand.
    Die anderen waren wie hinter Glas. Manche blieben bei ihrer Angst. Manche waren bei ihr. Sie merkte das gleich. Alles ging direkt in sie hinein, jede Geste, jeder Blick, jede Nervosität, jedes Ruhe-Bewahren. Tief unter den Krämpfen, dem Fieber, unter all dem, was nicht mehr steuerbar war, war das, was blieb, das reine Empfinden. Wie ein Neugeborenes, das schreit und weint und lächelt und ruhig wird, nur aus Empfinden besteht. Es nimmt nur das Wesentliche wahr. Sie sah es in den Augen derer, die kamen, in ihren Blicken. Angst macht die Glasscheibe dick. Mitleid macht die Glasscheibe dick. Wahres Mitempfinden, bei ihr sein, durchbricht die Glasscheibe.
    Sie zieht die Decke bis unters Kinn. Lächeln, ein leises Danke. In ihrem Inneren gefriert der See. Glas bleibt zwischen ihnen. Unter der Decke steckt sie vorsichtig, unbemerkt, die Zehen unter die Metallstange am Ende des Bettes, zieht sie fest zu sich heran. Sie betet: Bitte geht doch jetzt. Ob sie Schmerzen habe, fragt der Kollege. Das Mädchen schaut zu Boden. Carmen schüttelt den Kopf, um nichts sagen zu müssen. Die vertraute Kälte steigt durch Organe, Knochen, Sehnen nach oben. Als gäbe es eine innere Quelle dafür.
    Die Kollegen erzählen Klatsch aus dem Büro. Ihre Zehen winden sich noch fester um die Metallstange. Noch haben sie nichts bemerkt. Noch ist Zeit zu gehen. Klirrende Winternacht in ihrem Herzen. Kälte in ihrer reinsten Form: der Unausweichlichkeit. Louis de Funès fragt, ob er ihr etwas bringen kann. Sie presst den Mund zusammen, er wehrt sich, mit aller Gewalt, bis er endlich mit den Zähnen klappern darf. Ihre Beine, ihre Arme, ihr Oberkörper zappeln. Wie fremde Gebeine.
    Die Kollegen verharren eine Sekundenewigkeit lang. Starren sie an, gehen nicht. Mit beiden Händen ergreift Carmen die Metallstangen neben ihrem Bett, drückt dagegen, bis ihre Fingerknöchel schneeweiß werden. Es hilft nichts, die Bettdecke fliegt weg. Sie will lachen, doch ihre Zähne rattern wie ein Maschinengewehr. Es ist nicht die Hoffnung, die zuletzt stirbt. Es ist die Scham. Der Junge, der aussieht wie Louis de Funès, hebt die Decke vom Boden auf, und hält sie, fast schützend, vor seinen Bauch.

9 .Tag
    Die binomischen Formeln der Ärzte:
    1 . »Wir werden herausfinden, was Sie haben.«
    2 . »Noch etwas Geduld.«
    3 . »Jetzt warten wir ab, was uns die Untersuchung sagt.«
    Als wäre »die Untersuchung« der geheime Gral, den man nur zu fragen brauchte, und er würde alles verraten.
     
    Röhrchenschwenken, ganz zuversichtlich.
     
    Die Gleichförmigkeit der Tage. Die Illusion von Zeithaben. Das Zurschaustellen von Kompetenz. Formulare, Listen, Werte, aber kein Ohr, das auf ihrem Bauch lag und horchte. Kein Tropfen Blut unter dem Glas. Das Visitenkarussell. Jeder Arzt sah im Augenblick des Vorbeifahrens ihren schlechten Zustand, keiner den Verlauf. Jeder saß im weißen Kittel auf einem der Tiere des Karussells und fuhr. Es lief auf nichts zu, es lief nur im Kreis.
     
    Fünf DIN - A - 4 -Seiten füllte die Liste der Untersuchungen, nur die richtige, der Pieks in den Finger, der Tropfen unter der Scheibe, der fehlte.
     
    Wenn man im Krankenhaus eine Münze in den Kaffeeautomaten warf, kein Kaffee herauskam und man seine Münze zurückhaben wollte, musste man ein Formular ausfüllen, damit jemand gerufen wurde, der den Automaten aufschloss. Wie viele Formulare waren wohl nötig, um die Männer im weißen

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