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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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verstoßen, zurück in die Gewässer, zu Algen sollen sie wieder schrumpfen. Aus unserem Magen, unserer Leber, unserer Milz müssen wir sie für immer verbannen. So dachte ich. Längst ging es nicht mehr um die Geißeln.
     
    Carmen lag nah am Fenster. Ein riesiger Baum stand davor. Äste, Blätter wogten hin und her. Immer wieder flog ich zu ihr, sah ihre Augen. Die feinporige Haut, die sie einfassten, geriffelt wie ein Blatt, das trübe Weiß, die Kreole um den dunklen Kreis der Pupille, das Zucken der Pupille, das Zucken, bevor die Träne fällt. In einem gestärkten, weißen Hemd hatte sie ihre neue Nationalität angenommen: Patientin.
     
    Schwestern stellten ein Tablett auf ihr Wägelchen, sie rührte nichts an, Schwestern trugen es wieder weg. Als wäre es genau so vorgesehen. Als wären sie in der Wiederholung gut aufgehoben.
     
    Pfleger kamen nachts herein, maßen ihren Puls, den Blutdruck, die Temperatur. Gesichter näherten sich ihrem Gesicht, verschwommen, bewegten die Lippen. Sie versuchte ihre Zukunft an ihnen abzulesen. Wässrige Augen, das Pumpen im Hals, einmal sah sie ein großes Froschgesicht, das zu ihr sprach.
     
    Aus dem Dunkel des CT -Raums erhoben sich Apparate wie riesige Tiere.
     
    Jedes Blutabnehmen, jeder Handschuh, jeder Sprühnebel des Desinfektionsmittels, jedes Mundaufmachen, jede Infusion, jedes Röhrchen sagte: Es wird schon gut. Du bist in Sicherheit.
     
    Das Buch »Oblomow«, das Carl ihr geschenkt hatte, lag links von ihrer Brust auf dem Bett. Es markierte die Grenze. Dort die Welt, hier ich. Auf der ersten Seite stand geschrieben: »Für meine Reisegefährtin«.
     
    Das Wägelchen neben ihrem Bett. Ihr Handy, ein Stift, ein Foto von Carl und ihr lagen darauf – in einer zufälligen, aber unantastbaren Ordnung. Diese Ordnung war das, was ihr blieb, das, worüber sie noch bestimmen konnte.
     
    Langsames Einrichten, Abstecken. Neues Zuversichtfassen.
     
    Nach Hause, nach Hause. Warum nach Hause, wo sie schon längst nicht mehr dort wohnte? War das Zuhause einfach nur Ziel wie die Diagnose, der Punkt in der Ferne? In den bewusstseinsklaren Augenblicken erschien ihr das Zuhause künstlich und unerreichbar. Die Zuhausebilder in den Augenblicken des Übergangs zu den Träumen, wenn alles im Schwinden oder Entstehen ist, waren fassbar und nah.
     
    Sie ist ein Kind, die Familie sitzt im Wohnzimmer, der Feuerofen brennt, der Fernseher läuft, eine Fototapete mit Tannenwald, sie sitzen auf dem roten Samtsofa, im Schaukelstuhl. Draußen schneit es in dicken Flocken. Durch das dünne Fensterglas zieht der Wind herein. Der Vater sagt: »Wir laufen jetzt barfuß durch den Schnee.« »Nein, ich will nicht.« Alle drei Kinder wollen nicht, die Mutter will nicht, die Oma, der Opa will nicht. Er sagt, doch das machen wir jetzt. »Los, raus.« Er reißt die Balkontür auf. Alle zieren sich. Es ist so kalt, dann ziehen sie doch ihre Socken aus, vorsichtig. Der fallende Schnee macht alles leise, es sticht, als die Füße kurz den Steinboden der Terrasse berühren. »Und jetzt los«, ruft der Vater, und alle rennen, rennen, ohne zu denken. Durch den hohen Schnee, der knirscht und zischt, die warme Haut, das warme Blut unter Schock von so viel Kälte, sie rennen durch den Garten und schreien und wieder zurück, es ist heiß und es gefriert, und der Vater steht als Erster wieder auf der Terrasse mit lautem Lachen, empfängt sie, einer nach dem anderen, mit einem Klaps auf die Schulter, »tut das nicht gut, hab ich’s euch nicht gesagt?« Sie laufen ins warme Wohnzimmer, der Kamin brennt und der Kopf glüht und die Füße sind rot und das Blut rauscht und es kitzelt und es brennt. Und sie sind alle am Leben.
     
    Waren Ana und ich nicht die Einzigen, die noch übrig blieben? Ich, die Einzige, die Tag und Nacht so nah bei ihr war? Die Ärzte hatten den Fächer der Tropenkrankheiten aufgespannt. Es könnten Infektionen sein, von denen sie noch nie etwas gehört hätte, sagten sie. Dengue, Typhus, Gelbfieber seien jeweils nur die Spitze eines virulenten Eisbergs. Jede Zelle müsste untersucht werden. »Aber keine Sorge, wir finden heraus, was Sie haben.«
    Es gibt Befunde, die erschlagen einen. »Sie haben Krebs.« Als würde einen jemand zu Boden stoßen, auf den Kopf eintreten. Andere Befunde schleichen sich an wie eine Natter, sie lassen einen im Vagen, Ungewissen. Es könnte dies sein, es könnte auch jenes sein. Sie beruhigen, indem sie verunsichern. Und beides, das war das Verrückte, war

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