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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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zu. Eine neue tödliche Krankheit gebe es. AIDS heiße sie, und man sage, sie sei eine Strafe Gottes.
    Auf der Rückbank erstarrte sie. Der Mercedes surrte leise. Sie schaute aus dem Fenster, Wolken schoben hin und her, Bäume glänzten unwirklich. Zwischen zwei Nebelwolken ein Loch, das sie einsaugen konnte. Wenn das wirklich so wäre, dachte sie. Ja, wenn das wirklich so wäre, dass Gott straft durch eine Krankheit, wie groß, wie fürchterlich, wie mächtig wäre das. Was gäbe es dann noch alles, was er tun konnte.
    Darauf sprach der Herr zu Mose: Sag zu Aaron: Streck deinen Stab aus und schlag damit auf die Erde in den Staub! In ganz Ägypten sollen daraus Stechmücken werden. Sie taten es. Aaron streckte die Hand aus und schlug mit seinem Stab auf die Erde in den Staub. Da wurden Stechmücken daraus, die sich auf Mensch und Vieh setzten. In ganz Ägypten wurden aus dem Staub auf der Erde Stechmücken.
Und dieser Staub wird bald wieder aufwirbeln. Das verspreche ich euch.
    Sie schaute nach draußen, auf den Baum. Er wurde am dritten Tag erschaffen. Die knorrigen Äste, die sich in den Himmel spreizen. Die Adern jedes Blattes. Wie der Wind das silbergrüne Blätterwerk, die Äste, hin und her wogte, während er ihr Haar nicht mal berührte. Im inneren Zusammenspiel der Natur erscheint der Mensch manchmal als seltsame Dreingabe. Pflanzen sind fertig. Menschen müssen sich entwickeln. Der Baum stemmt sich gegen den Sturm, wehrt sich gegen Käfer, er verwelkt nicht in der Hitze. In sich trug er diese Kräfte, stumm und fest stand er da, er brauchte keine Ärzte, nicht die richtigen Medikamente, er musste in kein Krankenhaus. Er tat es selbst. Und dabei produzierte er auch noch ihren Atem, sogar der floss über ihn zu ihr, in ihre Lunge, pumpte ihr Blut durch ihre Adern. Dieser verdammte Baum. Was konnte sie tun? Wenn selbst der Baum mehr tun konnte als sie. Selbstmitleid ist eine Überlebensfunktion.
    Sie nahm den Stift von ihrem Wägelchen, das eng am Bett stand. Sie öffnete den schwarzen Filzstift und schrieb auf ihre Haut, quer über die Pulsadern: »Was ist da drin?« Das schrieb sie. Was ist da drin? Und legte den Stift zurück. Ich flog auf das »Was«, blieb sitzen, ruhig. Unter meinen sechs Beinchen, die ihre Haut bedeckten, war die ganze Welt. Kleines Herz pochte. Ich horchte, wie ihr Blut floss. Mit dünner Kraft, aber voller Leben. War das Blut eure Seele? Die Geißeln schwammen wie Berserker darin. Da blickten ihre Augen zu mir hinab. Ich senkte meinen Kopf, beugte den Rücken rund, wie die geistesarmen Mücken es tun. Erwartete ihren Schlag. Hatte ich es nicht verdient? Sie war die Einzige, von der ich es verdient hatte. Wenn sie mich sah, würde der Hass so selbstverständlich in ihr aufsteigen wie die bösen Dämpfe aus dem Erdboden. Wie er damals nach oben gestiegen war. Als die Zeit der schönen Gedichte des Engländers vorüber war. Als ihr endlich einen Feind hattet.
    Die Moskitobrigaden zogen durch die Straßen, gossen Öl in die Flüsse, in denen unsere Kinder lagen. Sie legten Sümpfe trocken, räucherten Häuser aus. Vernichteten alles Leben. Todesarbeiter wurden angeheuert, sie erschlugen die Mücken mit der Hand, mit diesem Blick in ihrem Gesicht, den ich noch heute in euren Gesichtern sehe. Es war pure Auslöschung. Das konnte keiner überleben.
    Doch die Moskitos kamen zurück.
    Es kam der Zweite Weltkrieg, und ihr wart nicht allein in diesem Krieg. Neben Deutschen, Alliierten, Russen, Amerikanern war noch jemand auf den Kampffeldern. Chinin klingelte in den Ohren der Soldaten. Netze wurden wie Brote verteilt. Auf Sizilien streckten fliegende Punkte zwanzigtausend britische Soldaten nieder.
    In Rom zwangen die Deutschen die Mücken zum Bündnis. Die Nazis zerstörten Pumpen, fluteten das italienische Ackerland, wo sie die Alliierten erwarteten. Sie wussten: In dem Sumpfwasser würde ein Brutplatz des Todes entstehen. Keiner brauchte sich mehr die Hände schmutzig zu machen. Später fand man in einem Bauernhof Pläne, auf denen die Deutschen skizziert hatten, wie die geschlüpften Moskitos über die Feinde herfallen. Im Pazifik, im Balkan, im Nahen Osten, in Holland, Mücken überall. Und Läuse. Läuse überall. Was tun? Von einem neuen Wundermittel war die Rede, das schnell seinen Einsatz auf den Schlachtfeldern fand: DDT .
    Let us spray,
hieß es allerorts, und die Menschen falteten ihre Hände.
    Die Mücken starben wie ihre Opfer. Sie zuckten, lagen in Krämpfen, DDT lähmte ihren

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