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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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er sei so groß wie ein Reiher. Mindestens. Eine Mücke? Eine von denen, die bei Dunkelheit draußen herumschwirren? Nein, eine kleine Mücke kann so etwas nicht anrichten. Es ist der große Vogel, der nachts über die Köpfe der Kinder fliegt.
    *
    Nachts hörte sie ein Rauschen. Als hielte ihr jemand eine Muschel ans Ohr. Es war mein Flüstern. Das Krankenhaus im Dunkeln, ein schnarchender Dampfer. Darin schlafende Menschen, jeder alleine, vereint durch das Ausloten der eigenen Grenzen. Sirenen heulen zu ihr herauf. Die letzten zwei Wochen waren wie eine Zeitreise, als wäre sie lange, lange unterwegs gewesen, an den verschiedensten Orten.
     
    Seltsame Ecken im Kopfkissen. Heimweh nach Sätzen.
     
    Die Welt wird kleiner. Der Körper wird größer.
     
    Gedanken, die sich nicht berühren. Empfindungen, die sich nicht berühren. Die frei nebeneinander stehen.
     
    Ein violettes Licht in der Steckdose. Lichtpunkte (blau, rot) tanzen verschwörerisch um die Steckdose. Wie Blinkzeichen.
     
    Das Geräusch von Hubschraubern. Die Hubschrauber holen sie. Oder sie bringen Carl.
     
    Wo war sie? Krankenhäuser machen alle Städte der Welt gleich.
     
    Sie drückt den Klingelknopf. Wohin führt diese Klingel, wo kommt das Klingeln an?
     
    Sie darf nicht einschlafen. Der schwarze Leib des Baumes kann auf sie stürzen. Das violette Licht kann sie verbrennen. Alles kann passieren.
     
    Der Italiener öffnete die Tür. Endlich. Giovanni mit den buschigen Augenbrauen. Er setzte sich zu ihr, maß ihren Puls. Von oben strahlte weißes Licht zu ihnen herunter, leuchtete in sein Jungengesicht. Sie lächelte ihn an. Giovanni hatte den Verdacht bei einer Visite geäußert: Vielleicht hatte sie eine Mischinfektion, vielleicht trafen zwei Virenstämme aufeinander, vielleicht waren zwei Dinge die Lösung. Ihn schien ehrlich zu plagen, was sie hatte. Sie sah es an dem Gekräusel zwischen seinen Augen. Vielleicht aus einem wissenschaftlichen Interesse oder einem Ich-komm-nicht-drauf, wenn einem ein Wort nicht einfällt, obwohl es doch auf der Zunge liegt. Vielleicht folgte doch alles einer verborgenen Logik, und diese Augenbrauen waren die Wegweiser nach draußen. Vielleicht, vielleicht.
    Ich kroch auf den Blutbeutel, der noch in der Silberschale lag, stieß hinein. Nahm vorsichtig ein paar Tropfen auf meine Stichwaffe. Auf Giovannis dunkler Haut würde das helle Blut glänzen. Dafür musste ich etwas tun, was Mücken nie tun: sich lange auf Menschenhaut aufhalten. Pferdebremsen konnten sich das leisten, an Senken voller Blut zu saugen, minutenlang. Die Evolution ging an ihnen vorüber. Sie kennen keine Angst, erschlagen zu werden. Ein Pferd hat keine Hände.
    Ich landete hinter seinem rechten Handgelenk, wo eine bläuliche Ader quer verlief, sein Daumen ruhte noch auf ihrem Pulsschlag. Er bekam Gänsehaut, ohne es zu bemerken, Stromschläge trafen meine Beinchen. Ich zog mit ihrem Blut eine Linie. Plötzlich ging alles ganz schnell. Ein Wirbeln. Ein Luftzug, wie wenn eine Tür ins Schloss fällt. Von oben flog die Hand auf mich herab. Eine riesige Hautfläche mit Kratern. Aus, vorbei.
    Es war noch nicht vorbei. Ein winziger Schacht, Licht, das durch eine Ritze zwischen zwei Fingern fällt. Ich roch seine Haut, Schweiß und Minze. Mein Herz pochte wild. Wisst ihr, dass Mücken ein Herz haben?
    Ich wollte ihr helfen, ich wollte alles für sie tun. Ihr Blut weiter fließen lassen, das ich vergiftet hatte. Nun starben wir beide. Die Angst kroch mir unter die Flügel. Da hebt sich die siegessichere Hand. Das Letzte, was ich im Hochrasen sehe, sind Haare, die kreuz und quer wie Kriegszäune über den Augen wachsen.
    In der Nacht träumte ich, ein Mensch zu sein, und frage mich, ob ich nicht ein Mensch bin, der träumt, ein Moskito zu sein.
    Im Traum sehe ich Ana und Carl, wie sie auf einem Felsen stehen. Der Felsen hat ein Gesicht. Eine Schlucht trennt uns. Sie wollen zu mir herüber, aber bei jedem Schritt nach vorne wird die Schlucht tiefer und breiter. Sie rufen etwas, das der Wind verweht. Ich versuche, sie anzurufen, aber das Telefon in meiner Hand hat keine Tasten. Ana und Carl als roter und gelber Punkt, am Ende eines Weizenfeldes. Der Weizen wogt hin und her. Winken sie mir? Die Kälte beißt in meine Glieder, meine sechs Beinchen zittern, als möchten sie abfallen. Die Palpen frieren zu. Ich lege mich auf den kalten Felsen.

11 .Tag
    Sie drückte den Klingelknopf. Es ging ihr ja gar nicht so schlecht, sie konnte aufstehen. Wenn sie

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