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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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klingelte, kam die Schwester, hievte sie aus dem Bett, führte sie an ihrem Arm auf die Toilette. Dann saß sie auf der Klobrille. Die Schwester draußen vor der Tür. Sie hörte, wie die Schwester die verschüttete Seife vom Boden aufwischte. Ein langsames Schaben und Knistern. Wie viele Saugblätter holte sie, wie oft wischte sie, wie oft warf sie es weg. Bis ihr der Gedanke kam, dass die Handlungen so lange dauerten, weil die Schwester sie in Zeitlupe machte.
    Sie sah den Gang eines Wolfes, seine Sehnen, sein Muskelspiel, das langsame Raumgreifen. Die Ruhe in der Kraft. Die Zeitlupe war so schön, weil es sie in der Wirklichkeit nicht gab. Darin lag ihre Schönheit. In der Unmöglichkeit, sie zu erleben.
    Die letzten zehn Tage: ihr Leben im Schnelldurchlauf. Aus einer jungen Frau wird eine Neunzigjährige, die jeder Schritt erschöpft. Wenn sie jemand gefragt hätte, wie sie sich fühlte, hätte sie nur ein Bild gehabt: Jemand knüllt ein Blatt Papier zusammen und wirft es in den Abfalleimer. Ein zerknüllter Mensch im Papierkorb. Das war sie.
    Wie sie da lag, das sah aus, als dämmere sie vor sich hin. Aber sie dämmerte nicht. Sie war: woanders. Als läge hinter der bisher bekannten Welt eine andere Welt. Wie tief ist der Brunnen in ihr? Wenn das, was man spüren, wissen, denken konnte, so groß war, wie groß war dann das, was man nicht spüren, wissen, denken konnte? Sie war gereist, hatte verrückte Dinge getan, hatte gelebt, wie sie wollte, doch demonstrierte ihr diese Krankheit, dass sie zu den Lauen gehörte. Dass Geist und Körper viel mehr zuzutrauen war. Wann hatte sie das Leben ausgereizt, wie diese Krankheit jetzt sie ausreizte? Sie durfte das nicht vergessen. Sie darf es nicht vergessen.
    Ana kam jeden Tag. Ana saß auf ihrer Bettkante. Ana hielt ihre Hand. Es wurde wenig geredet in diesen Tagen und viel verstanden. »Liebe Grüße von deinen Eltern, sie freuen sich auf dich.« »Ja.« »Ich habe nochmal mit dem Arzt geredet, über deine Reise in den Amazonas. Er hat versprochen, alles testen zu lassen, Gelbfieber ist es wohl nicht …« Anas weiche Hand ganz nass. »Ja.« »Wir fahren bald nach Hause.« »Ja.« Sie war zu müde, um zu reden, aber wie gerne wollte sie das glauben. Sie glaubte es. Bis zum Ende glaubte sie es.
    Carl schickte Textnachrichten, es piepte auf ihrem Wägelchen. Buchstaben wie geometrische Körper. Angst und Liebe schwappten durch das Meer. Sie schlief mit Carls zerknülltem T-Shirt in ihrer Hand. Ihre Liebe, gestaut im Krankenhaus. Carl bereute, was er nicht hatte vorhersehen können. Carl wollte zurück nach Rio fliegen.
    *
    In der Nacht hörte sie Schritte auf dem Flur. War das nicht normal in einem Krankenhaus? Gerade, als sie das dachte, war sie wieder im Hotel Rosita in Bariloche. Sie war in den Süden Chiles gereist und mit einem Schiff zwischen Gletschern hindurchgefahren, deren Farbe an den Boden von Schwimmbädern erinnerte. Sie überquerte die Grenze nach Argentinien in einem staubigen Bus. Niemand wusste, dass sie das tat. Ihr letzter Anruf kam vor zwei Wochen aus Santiago. Die Münzen klapperten so schnell durch den Bauch des Telefons, dass sie kaum mit dem Einwerfen hinterherkam. Morgen schon wollte sie wieder zurück, über die Grenze, nach Chile.
    Es war ein kleines, dunkles Hotel. Eines, um das man sich keine großen Gedanken machte, weil man nur eine Nacht darin verbrachte.
    An der Rezeption stand eine winzige Frau, die vermutlich einmal eine junge, hübsche Rosita gewesen war. Jetzt war ihr Gesicht auf vierundsiebzig Arten gefaltet. Ein großer Mann mit braunen, fast schwarzen Haaren, an seinen Augen erkannte sie, dass er der Sohn der Alten war, überreichte ihr den Schlüssel, ein schwerer goldener Zapfen hing daran. Er wünschte ihr in dem hellen Sing-Sang der Südargentinier einen schönen Aufenthalt. Sie achtete nicht auf das Schlüsselbord hinter ihm.
    Neben einem Tischchen, auf dem Zeitschriften wie ein Fächer ausgebreitet lagen, führte die Treppe nach oben. Nirgends ein Fahrstuhl. Das Hotel war so klein und turmartig, dass sich auf jedem Stock nur vier Zimmer befanden. Ihres hatte zwei schlichte Einzelbetten, sie wählte, ohne groß nachzudenken, das rechte. Ein Sessel mit Blumenmuster, ein schwerer Schrank, sie würde erst gar nichts einräumen, und ein Spiegel, der sie nur bis zur Hüfte zeigte. Die Luft war stickig wie auf einem überhitzten Dachboden. Es gab nur ein winziges Fenster, das man nach oben kippen konnte, durch den Spalt sah sie

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