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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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den Giebel eines Holzhauses. Das Badezimmer hatte gar kein Fenster, was sie nur einen Wimpernschlag lang beunruhigte, warum auch?
    Am Abend bummelte sie durch die Stadt, deren Lichter eines nach dem anderen angeknipst wurden. Hütten wie in einem Skiort in den Alpen standen auf dem Marktplatz, sie trank Rotwein in einer Pizzeria, rauchte eine Zigarette, als es langsam kühl wurde. Im Hotel stand nur noch der Sohn am Empfang.
    »Hatten Sie einen schönen Abend?«
    »Ja, danke, aber jetzt bin ich ziemlich müde … Gute Nacht …«
    »Gute Nacht«, ihr schien, als hätte er sie einen Augenblick zu lange angesehen. Und weil man sich solche Dinge nie einbildete, war es so.
    Während sie die Stufen nach oben ging, schüttelte sie den Kopf, schmunzelte, was für ein seltsames Pärchen. Sie war froh, dass sie morgen wieder abreisen würde. Im ersten Stock brannte Licht, die Türen zu allen Zimmern standen offen, so konnte sie sehen, dass auf jedem Bett zwei Handtücher, aufgefächert, mit einer Seife darauf lagen. Das Gleiche im zweiten Stock und im dritten Stock. Einen vierten gab es nicht. Sie war der einzige Gast, aber sollte sie das beunruhigen? Im Bett blätterte sie noch ein bisschen durch ihren Reiseführer, knipste die Nachttischlampe aus, schlief schnell ein.
    Mitten in der Nacht erwachte sie, so alarmiert, als hätte sie verschlafen. Sie knipste die Lampe an, es war fast drei Uhr, viel zu früh. Gerade wollte sie die Lampe wieder ausmachen, da hörte sie das Knarzen von Schritten auf der Treppe. Vier, fünf Schritte waren deutlich zu hören. Eine Stille folgte, als sei das Ziel erreicht. War das vor ihrer Tür? War das wirklich ihre Tür, vor der die Schritte endeten? Da sah sie, dass jemand die Klinke sehr langsam, als hätte die Wirklichkeit in die Zeitlupe gewechselt, nach unten drückte – und dass sie ebenso langsam wieder nach oben ging. Sie kroch unter die Decke. Als könnte sie sich in diesem Zimmer verstecken. Sie zog die Decke vom Kopf, schaute zur Tür. Sie wusste doch, wer da war.
    Der goldene Zapfen des Schlüssels, der in der Tür steckte, schwang hin und her, wie ein Pendel. Hatte sie den Schlüssel umgedreht? Hatte sie ihn umgedreht? Panisch schaute sie zum Fenster, selbst wenn sie es einschlug, war es zu klein, um ihren Körper hindurchzuzwängen. Sie blickte wieder zur Tür, sah schließlich ein zweites Mal, wie nun die Türklinke, energischer als beim ersten Mal, nach unten gedrückt wurde. Und dieses Hinunterdrücken war gerade so, als wollte sie jemand tief in den Boden drücken. Bis sie im Erdinneren verschwand.
    Niemand würde sie hier hören, niemand wusste, wo sie war. Sie war gefangen – so wie sie jetzt in diesem Krankenhaus gefangen war. Sie kam nicht mehr weg. Die Angst kroch kalt in ihr Bett. Sie lief durch die Infusionsnadel in ihre blaue, brennende Vene. Legte sich auf das Kissen, die Metallstäbe, ihre Füße, ihre Ohren. Sie schloss die Augen, und die Bilder nahmen, ohne zu zögern, Gestalt an. Vogelperspektive auf eine Wiese. Nahaufnahme. Carl und Carmen, wie sie im Gras herumrollen, wie sie sich in die Wiese einwickeln. Vogelperspektive, ein Kreuz auf der Wiese. Und dann stand diese Wahrheit klar vor ihr, als wäre sie in Stein gemeißelt, grausam und schön zugleich: Nur einer von beiden wird sich, mit einem Mal, feierlich dem Körper des anderen nähern. Nur einer von beiden wird Blumen auf die Knochen des anderen legen. Nur einer von beiden wird das Sterbedatum des anderen erfahren.
    Wer würde es sein?
    Es war Carl.
    Carl, der jetzt vor einem Grab steht. Vor ihrem Grab. Der kühle, feuchte Blumengeruch der Aussegnungshalle. Sie sieht das Gebinde, die offene Grube, sie will nicht hinein. Sie will nicht sterben. Sie hat ein Flugticket nach Hause. Augen auf, aufhören. Ihr Kinn zittert. Sie hält es fest. Es klappert gegen ihre Hand. Was wusste sie schon vom Sterben?
    Ihre Mutter steuerte den braunen Mercedes, mit Bezügen, die sich wie Samt anfühlten. Sie ein Kind auf der Rückbank, sieben, acht Jahre alt. Dieses Auto hatte einen Geheimnisraum. Vorne besprachen die Erwachsenen ungeheuerliche Dinge. Zwei große Samtsitze trennten sie davon. An diesem Tag saß auf dem Beifahrersitz die ältere Dame aus dem Altersheim. Irgendwie war sie mit ihnen verwandt. Frau Schönmann hatte weiße Haare und nur einen Fuß. Glitzerkleider für Puppen schneiderte sie, mit Hütchen dazu. Carmen sah die Einfamilienhäuser vorbeiziehen. Frau Schönmann flüsterte vorne ihrer Mutter etwas

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