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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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geht, nicht gegen sie. Wenn ihr anfangt zu sehen, dann seht ihr mich.
    Das Wort auf ihrem Körper.
    Eine Mücke auf einem Menschen.
    Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.
    Unsere Beziehung wandelte sich. Nicht, dass es eine Rolle gespielt hätte. Aber sie wandelte sich.
    Wenn ich euch als ein Ganzes, als ein Geschöpf sah, das blind war, so sah ich auch, dass sie mehr zu mir gehörte als zu euch.
    Große Netze habt ihr geknüpft. Fischernetze, mit denen ihr glitschige Leiber fangt, wurden zum Schutz gegen winzige Tiere – damit sie euch nicht fangen.
    Ihr seid im Netz. Nachts, wenn der Tag dunkel wird. Ihr habt nur noch eine Höhle, deren einziger Sinn darin besteht, euch von uns zu trennen. Nachts, wenn ihr wehrlos werdet. Dann gebt ihr uns die Welt zurück. Euch bleibt nur ein heiles Bett. Darum gleicht ein Malariakranker unter einem Moskitonetz einer Kapitulation. Wie jemand, der einen abgetrennten Finger wieder an seine Hand hält.
    Kleine Kinder, die unter einem Moskitonetz schlafen, fühlen sich beschützt. Das Netz ist wie ein Mantel, der sie umhüllt. Kinder aus Afrika, die nach Europa kommen und ohne Netz schlafen müssen, fürchten sich. Sie fühlen sich ausgeliefert. Ihre Welt ist nicht mehr dieselbe. Die Welt unter dem Moskitonetz.
    Ihr liegt im Bett, umgeben von einem Turm aus Stoff, meterhoch; er kann euch nicht vor einem stecknadelgroßen Tier schützen. Die Sicht ist verschwommen. Wo sitzt sie, von wo aus beobachtet sie mich? Wir kommen aus dem Dunkel des Zimmers, landen auf dem Netz. Von innen könnt ihr uns sehen, wie wir warten. Nicht aufgeben. Eine Mücke gibt nie auf. Für sie geht es immer um alles. Um Leben und Tod. Nichts liegt dazwischen.
    Ihr kriecht unter die Bettdecke, schwitzt, atmet schwer, versteckt euren Kopf unter dem Kissen. Und wenn wir doch durch das Netz hineinschlüpfen, durch einen winzigen Spalt, den letzten Rest eurer Welt erobern, könnt ihr es nicht fassen. Ihr wisst, sie ist da. Ihr wisst nicht, wo sie ist. Kommt sie von hinten, kommt sie an den Hals? Ihr wisst nicht, auf welche Körperstelle sie sich gleich setzt, die Haut versiegelt, eindringt. Ihr wisst, dass jemand Blut an euch saugt. Nachts, wenn ihr wehrlos werdet.
    Ich möchte Netze um alles hier legen. Um die Ärzte, um die Telefone, um die Wägelchen, die Apparate. Jedes einzelne Ding vom anderen getrennt. Ersticken möchte ich alles. Mit den Netzen. Auffangen möchte ich alles. Mit den Netzen. Alle Organe in ihr, die weich sind und groß, bald platzen sie, bald fallen sie auseinander. Hinabstoßen will ich euch, aus diesem Krankenhaus, aus dieser Erde. Eure Falschheit und Dummheit, ich ertrage sie kaum noch. Alle, die ihr euch die Augen mit den Händen zuhaltet. Die ihr … Da fiel ihr Finger neben mich, ganz nah, von innen. Der Geruch von Haut, die Linien in der Haut der Fingerkuppe, die eine Spirale formen, die sich dreht und pulsiert, die in sich läuft, auf etwas zu, von etwas weg. Der Finger war so dicht an meinem bebenden Leib, dass er, ohne es zu bemerken, ein Beinchen einklemmte. So gewaltig waren Kraft und Gewicht des Fingers, dass es abriss. Taumelnd fiel ich neben mein Bein, spürte den pumpenden Schmerz, ließ mich von ihrer Hand auf das Krankenhemd fallen, als könnte er dadurch vergehen. Hob die Augen. Die Sonne, die durch den Baum fiel, streifte ihr Gesicht, die Schatten der Blätter ein kompliziertes Muster, das klare Licht in ihrem Auge glitzerte. Die Träne fiel nicht. Nicht auf mich.

12 .Tag
    Ich träumte vom Wald. Die Buckel voller Moos, die Höhlen, die Gruben. Die Stämme, die sich wie Dinosaurierhälse in alle Richtungen biegen. Lianen erdrücken Bäume, Kletten ersticken Büsche, Ungeziefer rasen, Vögel schreien, und große Insekten erstechen stumm. Die verwirrende Wirklichkeit des Urwalds war auf das Verheimlichen ausgerichtet. Jederzeit konnte man darin verlorengehen.
    Die schmalen endlosen Flure, die beigen Wände, der Laminatboden. Die Teeküche, das Schwesternzimmer, auf jedem Stockwerk an derselben Stelle. Die Ziffern auf den Türen. Die Sterilität der aufgereihten Instrumente. War es nicht diese Übersichtlichkeit, in der man ebenso verlorengehen konnte? Lag nicht gerade in dem, was sich sauber und geordnet nach außen stülpte, alles in hoher Perfektion verborgen? Auch diese Klinik war eine Art Dschungel.
    An diesem Vormittag um 7 . 41  Uhr, draußen war es schon warm, verschwand Carmen im Krankenhaus Salbino. Gerade so, als existierte sie nicht.
    Ein

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