Mal Aria
Ort. Ist nur noch bei sich. Näher kann niemand bei sich sein. Sie hört, wie ihr Blut rauscht, wie es in alle Richtungen gleichzeitig strömt, sieht, wie die Adern flimmern und leuchten. Mein Blut. Mein krankes Blut. Bis zum Ende fließt es. Bleibt bei ihr. Es hält erst an, wenn sie nicht mehr da ist. Wenn das Blut das kann, fließen, was immer geschieht, dann kann sie es auch. Sie kann die Röhre weit machen; sich von dem Blutfluss davontragen lassen. Und das, was da liegt, das ist sie, ohne in Rio zu sein, ohne zu Hause zu sein, ohne im Wald zu sein, ohne irgendwo zu sein.
Das glatte Weiß um sie herum. Weiße Pferde, die auf sie zu galoppieren, mit Abstand vor ihr stehenbleiben, sie anschauen. Weiße Spatzen in weißen Nestern, die ihre weißen Kehlchen voller Hunger aufreißen. Dass sie weiß sind, weiß sie nur, weil alles aus dem größeren, tieferen Weiß kommt. Und in der Tiefe von diesem Weiß öffnet sich eine Tür, sie führt in einen Park. Ein Licht, das golden auf die Bäume fällt, die zu einem großen grünen Ball geschnitten sind, die einmal Urwald waren. Sie geht weiter und spürt die Blicke der Bäume im Nacken. Eine zweite Tür öffnet sich, durch einen runden Bogen betritt sie ein Museum. Sie geht geradewegs in die Sala 12 .
Durch den weiten Raum sieht sie das Bild. Die Hoffräulein. Das Licht auf dem Kleid von Margarita, das Licht hinten an der Tür, wo der Hofmarschall steht, ein Bein auf der Treppe.
Seit 1995 besucht sie das Bild, wie man einen Menschen besucht. Sie stand als neunzehnjährige Frau davor, als sechsundzwanzigjährige Architektin, als Verliebte, als Traurige, als Aufgeregte, als Frohe, als Zweifelnde, und sie würde noch als alte Dame mit grauen Haaren, Kostüm und einem Stock in der Hand davorstehen. Dachte sie.
Jedes Mal entdeckt sie neue Dinge darin. Was hält die Infantin in der Hand, ein rotes Kännchen? Wacht der Hund gerade auf? In dem Gemälde scheint so viel zu geschehen, als könnte es nicht aufhören zu geschehen. Und ihre Blicke. Der auffordernde Blick von Margarita, der skeptische, fast verächtliche von Velázquez selbst, der neutrale Blick der Zwergin. So viele Augen schauen einen auf so unterschiedliche Weise an. Diese Blicke ruhen fest auf einem, sie lassen nicht nach. Oder ist es der eigene Blick, der nicht nachlässt?
Was sehen die Hoffräulein? Den, der sie malt? Unbekannte Dritte? Uns? Sich selbst? Wen porträtiert der Maler weiter hinten? Tritt der Hofmarschall ein oder aus? Ist das ein letzter warnender oder neugieriger Blick für uns? Viele Besucher flüstern, stecken die Köpfe zusammen. Ein Mädchen erklärt ihrem Freund, was es zu wissen glaubt. Ihr Finger deutet auf die Zwergin. Ein Führer diskutiert mit einer Gruppe die Komposition des Bildes. Einzelne schauen stumm, mit einer Hand vor dem Mund. Keine Bank ist in der Nähe, keine Säule, an die man sich lehnen kann, alle müssen frei stehen und können doch nicht gehen. Man wendet sich nicht ab von diesem Bild. Wenn man es tut, spürt man die Blicke der Hoffräulein im Rücken.
Wen schauen sie an?
Ich glaube, die Hoffräulein schauen in einen Spiegel. Ich glaube, wir sind dieser Spiegel. Ihr Blick ist unser Blick. Die Hoffräulein blicken in immer neue, wechselnde Gesichter, in denen sie sich selbst, staunend, angewidert, hoffnungsvoll oder gleichgültig, erkennen. Sie können sich immer vorstellen, sie seien jemand anderes. Das ist es, was das Bild seit vierhundert Jahren lebendig macht. Solange Menschen es anschauen.
Nach zwei Stunden und sechsunddreißig Minuten bemerkt ein Pfleger ihr Fehlen. Er kehrt mit zwei Ärzten zurück. Sie drücken einen Knopf. Die Kreatur surrt langsam heraus. Der Pfleger umfasst ihren Arm. »Es tut mir so leid. Das sollte nicht passieren.« Wir schauen ihn an. Unsere Augen vor Schreck geweitet. Keine Verachtung ist darin, nur Ungläubigkeit. Er hebt sie auf die Trage, bringt sie auf ihr Zimmer Nr. 284 .
*
Sie atmete ein. Ich atmete aus.
Draußen die Wolken, einem Film gleich ziehen sie vorbei. Die Luft riecht nach Regen. Der Wind geht durch die Palmen, als würden sie winken. Der Wind droht mit etwas, und gleichzeitig bestärkt er sie. Eine hellgelbe Schicht Himmel, darüber bleistiftgraue Wolken, jede Wolke klar abgezeichnet. Zu einem Gebilde, das sich ständig verändert, dessen Einflüsse so fein sind, so verborgen, dass keiner sie beurteilen kann.
Das Haus gegenüber, unverputzt. Auf dem Balkon hängt ein Junge Wäsche auf. Er nimmt einen Pullover,
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