Malenka
»Mußte drüber weg«, sagte sie. »Kommste ooch, kommen alle, will ja keener jerne hintern Sarch her inne Jrube springen.« Es war eine Übersetzung der Redensarten, die Margot viel zu oft gehört hatte in diesen Tagen, das Leben geht weiter, Zeit heilt Wunden. Diesmal jedoch mußte sie mitten im Weinen lachen und spürte dabei, wie das Leben tatsächlich weiterging.
»Sie sollen ins Munitionsbüro zu Inspektor Kleinert kommen«, sagte der Hallenmeister am nächsten Morgen zu Margot.
»Wieso?« fragte sie, und er meinte, vielleicht weil sie aus dem Bankfach sei, so was brauche man wohl im Büro.
Die Mädchen blickten neidisch hinter ihr her. Das Munitionsbüro, eine Baracke, in der die Bestände des Arsenals verwaltet wurden, galt als begehrenswerter Arbeitsplatz, nicht zu vergleichen mit der im Sommer überhitzten und im Winter eiskalten Halle. Vor allem aber mußten sich dort die Matrosen der Swinemünder Schnellboote und Zerstörer melden, wenn sie, bevor ein Schiff wieder auslief, neue Signalraketen in Empfang nahmen, die wegen ihrer ständig wechselnden Zusammensetzung nur unter besonderen Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben werden durften. Und wo im Arsenal sah man sonst schon Matrosen.
Die Baracke lag etwas abseits zwischen Buchen und Kiefern, ein freundlicher Anblick in der Vormittagssonne, und hinter Schlehdorngebüsch halb verdeckt gab es sogar einen Kaninchenstall. Man schickte Margot zu Inspektor Kleinert, einem dürren, älteren Mann, grauhaarig, in einem grauen Kittel und von ihrer Erinnerung als eine Art Nebelschwade konserviert, der kaum hörbar »zum Chef« vor sich hin murrte.
Wiethe saß auf dem Schreibtisch, mit sämtlichen Orden bestückt und ein Buch in den Händen. Sie hatte ihn schon an seinem »Herein« erkannt, und nun sah er sie an und sagte fröhlich: »Na, da sind wir ja endlich wieder vereint, young Lady.«
»Leben Sie noch?« fragte Margot, und Wiethe erklärte ihr in dem schon bekannten Tempo, es sei in der Tat fast ein Wunder, er hier lebendig auf dem Schreibtisch. Irgendein Granatsplitter habe nämlich in seinem Brustkasten zu wandern begonnen, ganz knapp noch erwischt, den Bruder, danach Genesungsurlaub in Hamburg und beinahe eine Bombe aufs Haupt, naja, Unkraut vergeht nicht, und zumindest habe er Frau und Sohn noch in Sicherheit bringen können, am Plöner See, den würden die Tommies hoffentlich in Ruhe lassen, und da sei er wieder. »Es freut Sie doch hoffentlich?«
»Meine Großmutter ist gestorben«, sagte Margot.
»Verdammt. Und ich wollte sie doch noch kennenlernen.«
Wiethe rutschte von seinem Schreibtisch herunter und strich über Margots Arm. »Tut mir leid, Malenka. Es müssen so viele Junge sterben, da könnte der liebe Gott wenigstens eine alte Frau übriglassen.«
»Ist doch Quatsch«, sagte Margot, und er sagte, daß er immer Blödsinn rede, wenn er eigentlich sprachlos sei, und ob sie Lust hätte, hierher ins Büro zu kommen. Nicht gleich, aber Mitte Oktober, bei dem großen Wechsel im Lager, würden Plätze frei, da könne er sie anfordern.
»Fräulein Jarosch ist das Bankmädchen«, erklärte er dem grauen Kleinert. »Perfekt in Buchführung, können wir doch brauchen, wie?«
»Jawohl, Herr Oberleutnant«, sagte Kleinert mißmutig, wie er prinzipiell einen Groll hegte gegen die ständig wechselnden Offiziere im Chefbüro, die, so hörte Margot ihn bei späterer Gelegenheit schimpfen, nur pro forma dort herumsäßen und einen Mist nach dem andern bauten, den er dann auszubaden habe.
Aber Kleinert ist ohne Belang, ein Statist nur für das Spiel, das im Stralsunder D-Zug angefangen hat. Umbau, Szenenwechsel, der nächste Akt beginnt. Nicht sofort allerdings. Noch fehlt eine Hauptperson. Und auch der September muß erst vorüber sein.
Als Liesbeth Domalla erfuhr, daß Margot ins Munitionsbüro wechseln sollte, sagte sie: »Is ejal. Ick wer sowieso in Oktober entlassen, und ’n Krieg hacken se ooch bald ’n Schwanz ab.«
Es stimmte, der Krieg näherte sich dem Ende, sechs Monate nur noch, wenn auch sechs Monate Krieg mehr bedeuten als sonst sechs mal dreißig Tage. Die Engländer und Amerikaner rückten auf die westlichen Grenzen zu, die Ostfront zerfiel, wollt ihr den totalen Krieg, hatte Goebbels schreiend gefragt, nun war es soweit. September 1944, ein schöner Frühherbst, sonnig und klar, gute Sicht für die feindlichen Flieger. Nacht für Nacht fielen Bomben auf die Städte, und Mitte des Monats erfuhr Liesbeth Domalla, daß es die Mietskaserne in
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