Malenka
der Ackerstraße, wo sie aufgewachsen war, Stube, Kammer, Küche und Klosett und Ausguß draußen im Treppenhaus, nur noch als Schutthaufen gab. Sie stand da und starrte auf das Telegramm, ihre Hand zitterte, »Jott sei Dank sind ja alle lebendig«, sagte sie, »aber keen Bett, keen Herd, keen Topp, wat soll dat bloß werden.«
Liesbeth erhielt von der Zink, ohne daß sie darum bitten mußte, vierzehn Tage Sonderurlaub, und diesmal war es Margot, die das Nötige tat. Sie ging von Stube zu Stube, um Kleidungsstücke zu sammeln für die Ausgebombten, und zog am nächsten Morgen mit Liesbeth den Handwagen zum Bahnhof. Bevor der Zug kam, griff sie nach ihrem Brustbeutel, den sie immer bei sich trug, seitdem Fräulein Zink angefangen hatte, nach Unordnung in den Spinden zu fahnden, und gab Liesbeth einen von Anna Jaroschs Hundertmarkscheinen.
Liesbeth fing an zu weinen. »Hat mir noch nie eener wat jeschenkt«, sagte sie, »vajeß ick nich«, mit soviel Ergebenheit im Blick, daß Margot erschrak, ähnlich wie in der Kleinen Wollweberstraße, wenn Frau Dobbertin die Arme ausgebreitet hatte. Sie wollte etwas sagen, nur fiel ihr nicht das richtige ein. Der Zug fuhr auch schon ab, und bald darauf wurde ohnehin alles anders. Liesbeth kehrte zwar zurück, blieb auch, als die meisten Mädchen im Oktober entlassen wurden, weiterhin im Lager, weil ihre Eltern keinen Platz mehr für sie hatten. Aber die Zink beorderte sie zum Küchendienst, in verantwortlicher Stellung sogar, ihr Wunsch seit langem. Doch mit den gemeinsamen Wegen durch den Wald war es vorbei.
»Mußte alleene jehn«, sagte sie traurig zu Margot, »wird schon ’ne andere kommen.«
Eine andere. Sie kam bald, Lore Möller, die Person, die noch fehlte im Spiel.
Plötzlich stand sie im Speisesaal, größer als früher, fast so groß wie Margot, die hellen Haare an den Seiten hochgekämmt, auch sonst verändert. Margot hatte sie nach Dr. Möllers gewaltsamem Ende nie mehr in den Straßen von Pyritz getroffen, und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, wer da stand. Lore Möller, die Freundin, die sie sich immer gewünscht hatte, der sie immer ausgewichen war.
Auch diesmal zögerte sie, ein Augenblick der Balance, alles in der Schwebe, noch kann sie sich abwenden. Aber es gibt keine Gründe mehr dafür, die Gewichte haben sich verschoben. Mellenthin ist nicht Pyritz. Und so geht sie auf Lore Möller zu, der Raum zwischen ihnen schrumpft, das Spiel kann seinen Lauf nehmen. Wie soll es heißen?
Nein, nicht mehr von Spiel reden. Es ist kein Spiel, es ist Wirklichkeit, die Toten stehen nicht wieder auf, um sich vor dem Vorhang zu verbeugen. Vielleicht, daß die Fäden gezogen werden, aber die Puppe muß auch tanzen. Schluß mit dem Spiel.
Es blieben noch fünf Monate bis zur Flucht. Flucht, was für ein Wort, Flucht vor den Feinden, den Rächern, dem Tod, bei der Flucht gefaßt, auf der Flucht erschossen, verhungert, verschollen. Ein Wort aus der Tiefe, keines für gute Bürger und junge Mädchen, dennoch in aller Munde damals, ich bin auf der Flucht.
Als es Margot traf, im März 1945, waren die Bewohner von Pyritz längst unterwegs, jene zumindest, die nicht in den Trümmern lagen. Die Toten von Pyritz. Sie hätten weiterleben können, fliehen zur rechten Zeit, aber es war ihnen verboten worden, nach
Pyritz kommen die Russen nicht, Pyritz wird gehalten. Russische Panzerspitzen nur zehn Kilometer vor der Stadt, beim Wall rodelten noch die Kinder, so ging die Stadt zugrunde. Am ersten Februar stürzte der Turm der Mauritiuskirche zusammen, die Kleine Wollweberstraße verschwand, und Dobbertins starben in ihrem Käsekeller, wo sie Schutz gesucht hatten.
Margot erfuhr durch Gottlieb Thieme, ehemals Altgeselle von Bäcker Manzig und nun in Mellenthin bei Verwandten untergekrochen, daß sie endgültig keine Bleibe mehr besaß, auch niemand mehr auf sie wartete. »Kaputt«, sagte er, »alles kaputt, unsere Stadt gibt es nicht mehr«, und Margot hatte geglaubt, davonlaufen zu müssen, sofort, als könnte Pyritz auch sie noch unter sich begraben.
Zum ersten Mal der Gedanke an Flucht. Aber es war Winter, »wer jeht denn in’n Winter uffe Straße, wenn er nich muß«, sagte Liesbeth Domalla, »wat eener hat, weeß er, wat eener kriegt, weeß er nich«, und auch Lore Möller, die einzige eigentlich, auf die es Margot inzwischen ankam, wollte lieber bis zum Frühling warten. Usedom sei sicher, hieß es, die Front wieder stabil. Zwar trug der Wind Anfang März aus
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