Malenka
hinterher.
Aber für eine angemessene Kaffeetafel zu Ehren der Verstorbenen fehlten die Produkte, und so saßen nur Emil und Else Dobbertin mit Margot zusammen oben in der Stube, wo Anna Jarosch weiterhin anwesend zu sein schien. »Eine wie sie«, sagte Frau Dobbertin, »verschwindet nicht so schnell« und nahm Margot in die Arme, die es geschehen ließ, dankbar an diesem Tag für alles, was ihre Großmutter und sie empfangen hatten an Güte. Vielleicht ist es zum letzten Mal, auch das dachte sie, obwohl Dobbertins darauf bestanden, daß Margot die Wohnung behalten solle, mietfrei sogar, man bekäme ohnehin kaum noch etwas fürs Geld, und sie müsse wissen, wo sie hingehöre.
Nichts also war aufzulösen und nur wenig zu ordnen. Die schwarzen Kleider, das unablässig geflickte Bettzeug. Margot strich mit den Händen darüber, unfaßbar noch, wie nur die Dinge übrigblieben. Versteckt hinter den Nachtjacken aus Barchent, die ihre Großmutter bis zum Schluß getragen hatte, fand sie einen zierlichen Schlüssel, der obere Teil wie Filigran. Er gehörte zu der Schublade des Vertikos, Anna Jaroschs Geheimfach. Braucht jeder Mensch Geheimnis, hatte sie gesagt, und Margot schämte sich, als sie es nun brach. Außer Urkunden, Marie Asmussens Rezeptbuch und allerlei Krimskrams von unbekannter Herkunft und Bedeutung enthielt die Schublade Feldpostkarten der gefallenen Söhne Erich und Johann sowie einen Liebesbrief Heinrich Jaroschs an die damals offenbar noch unentschlossene junge Anna, wohlgesetzt, voll flammender Verlogenheit und sicherlich nicht von ihm selbst verfaßt. Auch eine Fotografie lag dabei, die ihn neben dem Gespann, Anlaß für so viel Betrug und Unglück, zeigte, Peitsche in der Hand, Mütze verwegen auf dem Kopf, was kostet die Welt. Sogar die überhellen Augen ließen sich ausmachen, jene Augen, die er seiner Tochter vererbt hatte, wie ein weiteres Bild bestätigte, auf dem Hedwig, Arm in Arm mit einem hochgewachsenen, schlanken Mann, verliebte Blicke warf. Robert Kremer und ich, las Margot auf der Rückseite.
Das Gesicht ihres Vaters, auch eins von Anna Jaroschs Geheimnissen. Margot trat vor den Spiegel und sah die Ähnlichkeit mit ihm, die Nase, die Backenknochen, ein fremder Mensch, von dem sie das Gesicht bekommen hatte. .Wer war Robert Kremer? In einem Umschlag fand sie einen handgeschriebenen Brief, flüssige, schnell laufende Zeilen, die Unterschrift mit einem großen, kunstvoll verschlungenen K. versehen. Ich, Robert Kremer, wohnhaft in Hannover, Heinrichstraße 21, erkenne hiermit an, daß ich der Vater des von Hedwig Müller, geb. Jarosch, Pyritz, erwarteten Kindes bin, und verpflichte mich, von dessen Geburt bis zur Vollendung des sechzehnten Lebensjahres monatlich RM 20,- zu zahlen.
Das Gesicht, die Schrift, das war alles, was sie von ihrem Vater besaß. Sie schnitt den Kopf aus dem Foto und steckte ihn hinter Hedwigs Bild in ihr Medaillon, das sie immer am Hals trug. Die Anerkennung der Vaterschaft legte sie zu den Papieren und Zeugnissen in die Umhängetasche, ebenfalls alle restlichen Fotografien mitsamt Heinrich Jaroschs Liebesbrief und, als wichtigsten Besitz ihrer Großmutter, das Rezeptbuch. Schließlich noch der Griff nach den Ersparnissen, die unter dem Dielenbrett auf ihre Stunde gewartet hatten, siebzehn saubere, glattgestrichene Hundertmarkscheine. Margot konnte nicht umhin, Zins und Zinseszins zu errechnen, die die Summe durch die Jahre erbracht hätte, dachte jedoch an Anna Jaroschs Grundsatz: »Trägst du Geld nach Bank, und wenn du brauchst, hat Bank zu«, und verwahrte ihr Erbe in einem Brustbeutel unter der Bluse. Sonst nahm sie nur einen Koffer voller Wintersachen mit, alles übrige blieb zurück. »Du hast ja hier dein Zuhause«, sagte Else Dobbertin. Aber es war kein Zuhause mehr ohne Anna Jarosch, eine leere Hülse, sonst nichts.
Die Rückfahrt nach Mellenthin verging Margot im Schlaf, endlich Schlaf nach den letzten Nächten, in denen sie immer wieder die Stimme ihrer Großmutter gehört hatte, ist gut, Malenka, bist du jeden Tag Freude für mich gewesen. Aber was Anna Jarosch auch vorbrachte an Tröstlichem, es wog nicht schwer genug gegen die Versäumnisse und Unterlassungen auf Margots Seite, und Versprechen nützten nichts mehr, zu spät.
Am Bahnhof wartete Liesbeth Domalla mit einem Handwagen. Sie legten den Koffer darauf und gingen stumm nebeneinander her, die Apfelbaumchaussee entlang, ins Dorf und zum Lager. Erst vor dem Tor fing Liesbeth an zu sprechen.
Weitere Kostenlose Bücher