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Malenka

Malenka

Titel: Malenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Korschunow
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holten sie die verlorene Zeit ein, erst vier Uhr, und schon sahen sie die Stadt.
    Dort, wo sie ausstiegen, lag ein Birkenwäldchen links von der Straße, rechts eine Wiese und im Hintergrund, zwischen Bäumen und Büschen, ein See, Mecklenburg, Land der Seen. Der Treck hatte gerade angehalten, wieder ein Stau. Niemand wußte, wie lange, und die Hektik der Rast begann.
    »Gleich wird gekocht«, sagte Margot. In der Nähe stand ein Planwagen, eine Frau sprang vom Bock, ein alter Mann hängte den Pferden Futtersäcke um, freundliche Leute offenbar. Als der Mann auf die Wiese zuging, gab Margot Lore ein Zeichen. Sie folgten ihm und beobachteten, wie er in einem Rechteck von Ziegelsteinen Feuer anlegte, Papier, Späne, Holzstücke. Die Frau brachte den Suppentopf und holte dann ein Kind vom Wagen, drei Jahre mochte es sein, die braunen Zöpfe wippten, als es vor der Mutter hersprang.
    Margot schob sich näher heran. Sie roch Erbsen und Rauchfleisch, fing den Blick der Frau auf und lächelte entschuldigend, wie immer bei diesem Geschäft, für das Lore nicht taugte.
    Die Frau rührte mit einem Holzlöffel in der Suppe. »Wollt ihr mitessen?«
    Jetzt kam auch Lore und setzte sich ans Feuer, und Margot ging noch einmal zurück, um ihr Bündel zu holen.
    In diesem Augenblick stieß das Flugzeug herunter, zwei glitzernde Flügel im Sonnenlicht. »Tiefflieger!« kreischte eine Stimme, da hämmerten schon die Schüsse. Margot ließ sich zu Boden fallen, Großmutter, hilf mir, schrie es in ihren Ohren, sie war es selbst, die schrie, Schüsse, noch einmal Schüsse, dann Stille, nichts mehr. Margot hob den Kopf. Der Himmel spannte sich klar und glatt, ihre Beine waren noch da, die Arme, sie bewegte die Finger, ich bin da.
    Langsam stand sie auf, ein Schritt, noch einer, dann ging sie zu der Feuerstelle. In dem Topf brodelte die Suppe, es roch nach verkohltem Holz, Lore lag über ihrem Bündel. »Du brauchst keine Angst mehr zu haben«, sagte Margot. Sie berührte die Schulter, fühlte, wie ihre Hand feucht und klebrig wurde, sah das rotverfärbte Nackenhaar und, als sie den Kopf anhob, die leeren Augen. Daneben lag die Frau. »Mama«, rief das Kind, ein Pferd wieherte, das war die Welt zu dieser Stunde. Und Jahre danach, als Margot, alt geworden inzwischen, zurückkam an den Ort, alles unverändert, die Wiese, der von braunen Büschen umkreiste See, das Birkenwäldchen, da kam auch die Stunde zurück, und wieder spürte sie die Starre durch ihren Körper kriechen, und Lores Augen sagten: »Es sollte doch anders werden, erinnerst du dich?« Ein langer Weg bis zu diesem Tag, zu früh vielleicht, jetzt schon davon zu sprechen. Doch gestern, heute, morgen, wie kann man eins vom anderen lösen im Nachdenken über diese Geschichte, hier am Knotenpunkt von Neustrelitz, März 1945.

    »Kommen Sie«, sagte der Offizier. »Wir können Sie ein Stück mitnehmen.«
    Der Treck hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Das Kind war verschwunden. Am Straßenrand stand ein Kübelwagen.
    »Ist es Ihre Schwester?«
    Margot nickte mechanisch, und der Offizier nahm Lore die Umhängetasche von der Schulter. Vorsichtig, als könnte er ihr noch weh tun, zog er das Bündel unter ihr weg, ließ den Inhalt ins Gras fallen und breitete die Decke über sie.
    »Gehört das da Ihnen?« Margot nickte wieder, und er kniete sich neben ihr Bündel, um Lores Tasche hineinzuschnüren. Auf dem Weg zum Auto spürte sie, daß ihr Schlüpfer und die Trainingshose naß waren. Der Widerwille gegen den kalten, feuchten Stoff zwischen den Beinen war das einzige, was sie empfand.
    Langsam schlängelte sich das Auto an dem Treck vorbei. Durch die Seitenplanen schnitt der Wind. Margots Zähne schlugen aufeinander, und der Offizier, der vorn beim Fahrer saß, wollte ihr seinen Mantel reichen. Margot hob die Hand, da sah sie das dunkle, harte Blut. Sie starrte darauf, den Arm mit den gekrümmten Fingern von sich gestreckt, als sei er aus Holz.
    Der Offizier schwang sich über die Lehne auf den Sitz neben Margot. Mit seinem Taschentuch versuchte er, die Kruste abzuwischen, und goß, weil sie sich nicht lösen wollte, ein paar Tropfen Schnaps darüber. »Wird alles gut«, murmelte er, bog Margots Kopf zurück und schob ihr die Flaschenöffnung zwischen die Lippen. Die scharfe Flüssigkeit brannte in der Kehle, Margot schüttelte sich, und er ließ sie nochmals trinken. Danach begann er, Speck aufzuschneiden, dünn, fast durchsichtig. »Speck muß dünn sein«, sagte er, »dann fasert

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