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Malenka

Malenka

Titel: Malenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Korschunow
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Kreuz verteilte Pfefferminztee und Suppe, in der Kohlstreifen schwammen, Kartoffeln und der weiche, süßliche Gallert von Schweinepfoten. Mit ihren Näpfen auf den Knien hockten sie da und aßen. »Diesen Fraß hätten wir bei uns auf dem Hof nicht mal den Hunden gegeben«, schimpfte eine Frau, aus Ostpreußen der Sprache nach, immer noch rotbackig und der Scheitel in dem dünnen weißen Haar ohne Tadel, »nicht mal den Hunden«, worauf eine andere sich umdrehte. »Jetzt habt ihr aber keinen Hof mehr«, sagte sie, »jetzt müßt ihr fressen, was ihr kriegt.«
    In der Nacht trieb das Mondlicht den Schlaf aus der Turnhalle. Unerbittlich strich es über die Gestalten am Boden, Menschenbündel, preisgegeben auf ihren Strohsäcken. »Für uns«, sagte Lore, »ist alles nicht so schlimm. Irgendwann kommen wir nach Dessau und haben Betten und warmes Wasser und wissen, wo wir hingehören, und dann wird alles anders. Muß es doch. Es muß doch wieder schön werden.«
    Das war die letzte Nacht, noch dreißig Kilometer bis Neustrelitz, und obwohl ihr Tagesplan am nächsten Morgen aus der Ordnung geriet, sahen sie schon am Nachmittag die Türme der Stadt. Verspätet aufgebrochen, doch vorzeitig angekommen, seltsam, wie eins ins andere griff, um sie zu dieser Stunde an diesen Ort zu bringen. Timing, wird Margot es einmal nennen, alles ist Timing, schlafe länger, und du mußt sterben.
    Daß sie nicht so früh wie sonst auf die Straße kamen, lag nur zum Teil an der gestörten Nachtruhe. Vor allem brauchten sie neue Lebensmittel und vergaßen, weil die Geschäfte erst um acht öffneten, unter der Dusche die Zeit. Zum ersten Mal Wasser, das den Schmutz der Tage und Nächte wegschwemmte, immer wieder kaltes Wasser in scharfen Strahlen, bis die Muskeln sich zusammenkrampften und die Haut rot wurde. Sie lachten, ließen das Wasser über die Haare laufen, rieben sich trocken, tranken den Milchkaffee vom Roten Kreuz, auch Grießsuppe gab es, süß und dick. Es war fast halb neun, als sie endlich die Schule verließen.
    Auf dem Neubrandenburger Marktplatz, vor einer Bäckerei, nahm Margot ihre Konfirmationsuhr ab, die kleine silberne, »für dich, Herzchen«, hatte Frau Dobbertin gesagt. Warum habe ich damals eigentlich geweint, dachte Margot und öffnete die Ladentür.
    »Eine Uhr?« Die Frau im weißen Kittel blickte mißtrauisch. »Brot kann ich nur für Marken hergeben.«
    Margot wies auf die Straße, wo Lore mit den Deckenbündeln wartete. »Wir sind schon so lange unterwegs, von Usedom.«
    »Großer Gott, Usedom.« Die Frau, die begonnen hatte, braune, mehlbestaubte Brotlaibe in die Regale zu legen, fuhr herum. »Sind da etwa die Russen?«
    Usedom, ein Schlüsselwort offensichtlich. Margot zog den Brotgeruch ein, frisches Brot, und spürte den Geschmack der süßen, malzigen Kruste. »Nein, noch nicht«, sagte sie, »aber bei Wollin schießen sie schon, Tag und Nacht, und wir wollten lieber rechtzeitig weg, wir stammen aus Pyritz, da ging das von einer Minute zur andern, alles kaputt, da können wir nicht mehr hin.«
    Sie hätte noch länger geredet um einen Laib Brot, doch die Frau fiel ihr ins Wort. »Meine Tochter ist in Swinemünde, bei der Flak. Wißt ihr was von Swinemünde?«
    Margot schwieg. »In Swinemünde ist alles in Ordnung«, sagte sie dann. »Ich kenne jemanden, der ist jeden Tag hingefahren, noch vor...« Sie überlegte, wie lange war es her? »Vor sechs Tagen noch«, sagte sie.
    »Meint ihr, daß es da losgeht?«
    Margot, die mit den Schultern zucken wollte, was wußte sie von Swinemünde, sah das verängstigte Gesicht der Frau, auch das Brot. »Nein«, sagte sie, »bestimmt nicht. In Swinemünde sind so viele Flüchtlinge, die ganze Stadt ist voll, da kann man doch nicht einfach reinschießen.«
    Lachhaft, die Begründung, wenn man an Dresden dachte. Doch die Frau wickelte ein Brot ein, holte auch noch eine Büchse. »Schmalz«, sagte sie und weinte dabei, »vielleicht schicken sie meine Tochter bald nach Hause. Die ist ja erst siebzehn.« Sie wischte mit der Hand über die Augen, Mehlspuren zwischen den Tränen, daran mußte Margot denken, als der Wehrmachtsbericht eine Woche später am 13. März die Zerstörung Swinemündes durch amerikanische Bomber meldete.
    Es war bereits neun, da stießen sie endlich zum Treck, schliefen lange nach der Mittagspause, und kein Gedanke mehr an Neustrelitz, wie es schien. Doch plötzlich hielt ein Lastwagen neben ihnen, lachende, winkende Soldaten, kommt her, fahrt mit, so

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