Malenka
Mal«, sagte er, »frühstücken wir zusammen, dann ist Frieden, und wir liegen auf einer Wiese, und abends tanzen wir irgendwo.«
»Tanzen«, sagte Margot.
»Alle werden wieder tanzen«, sagte er, »alle, die übrigbleiben.«
Sie fuhren durch Kiefernwälder, über die Elbe, endlos an Spargelbeeten vorbei. »Von Stendal kommst du mit dem Zug weiter bis Dessau«, sagte er. Dessau, das Margot als Ziel genannt hatte, aus Gewohnheit noch, so schnell, wie alles gegangen war, keine Zeit, ihm und sich selbst zu erklären, daß sie kein Ziel mehr besaß.
Am Stadtrand trennten sie sich. Margot stand am Weg und winkte, in der Hand den Zettel mit seinem Namen, Dipl. ehem. Ulrich Jensch, Berlin-Charlottenburg. Es war Sonnabend, fast eine Woche vergangen seit der Flucht aus Mellenthin. Am Tag darauf fuhr sie nach Hannover.
Wann hatte Margot gewußt, wo ihr Ziel lag? Gewiß nicht bei dem Abschied am Morgen, auch nicht am Nachmittag im Stendaler Bürgerpark, als sie das Brot der Bäckersfrau aus Neubrandenburg aß, unter einer Kastanie, dem einzigen freien Platz offenbar in dieser Stadt voller Flüchtlinge. Immer noch Sonnenschein, ein See, über den lautlose Schwäne zogen, die Trauerweiden im Wasserspiegel friedlich und schön. Aber es war kein Strohsack mehr aufzutreiben, nicht einmal ein leeres Hotelbett, und die Häuser an den Straßen, proper und unversehrt, gehörten mit ihren weißen Gardinen in eine andere Welt. Ich will ein Bett, dachte Margot unter der Kastanie, ein eigenes Bett. Sie blickte hinter den Spaziergängern her, wie sie dem Sonntag entgegenwandelten, aus Wohnungen kamen, in Wohnungen zurückkehrten, ein Bett, dachte sie, da stand die Frau vor ihr, klein und zierlich, braune Augen in dem bräunlichen Gesicht, auch der Mantel, der Hut, die Haare braun, und fragte, ob sie eine Unterkunft brauche, Fräulein Susanne Roth. Ein kurzer Auftritt nur für sie in der Geschichte, jemand, der den Weg kreuzt, man trifft ihn und geht weiter. »Zwischenmahlzeiten«, wird Margot Begegnungen dieser Art später nennen, »und manchmal weißt du gar nicht, was du da gegessen hast.«
Susanne Roth, Zeichenlehrerin der Stendaler Oberschule für Mädchen, wo sie ihrer farblichen Fixierung wegen nur Susi Braun hieß, war in den Park gekommen, um den Schwänen Küchenabfälle hinzuwerfen, doch nun sah sie das Mädchen auf der Bank, das Bündel daneben, das Brot im Packpapier und die Schmalzbüchse. »Eine Unterkunft«, wiederholte sie, denn Margot begriff nicht gleich, daß sich Anna Jaroschs Grundsatz, wer etwas finden will, darf nicht lange suchen, wieder einmal bewahrheitete. »Wenn Sie mitkommen wollen, ich habe ein Sofa frei.«
Sie gingen über den Markt, am Roland vorbei und an den Rathauslauben, und bogen rechts in die Hallstraße ein. Vor einem Fachwerkhaus mit geschnitzter Tür und Messingbeschlägen blieben sie stehen. Fräulein Roth wohnte im Erdgeschoß, polierte Möbel, Mullgardinen vor den Fenstern und an den Wänden ein Blumenreigen, Pastellbilder von schwebender Anmut, gelb und braun. Unterwegs schon hatte sie von ihrem Beruf erzählt. Malerin, aber der Mensch müsse leben, und jetzt wartete sie auf Margots Reaktion.
»Gefallen Ihnen meine Bilder?«
»Doch, ja.« Margot sah die Lilien an, die Forsythienzweige, Teerosen, Dahlien, Dotterblumen. »Auch die Farben, immer die gleichen und trotzdem so verschieden.«
»Sonne und Erde«, sagte Fräulein Roth, »seit eh und je meine Lieblingsfarben«, und Margot mußte lachen. »Haben Sie mich mitgenommen, weil meine Jacke gelb ist?«
»Kann sein.« Fräulein Roth lachte ebenfalls. »Aber hauptsächlich, weil Sie... Oder darf ich du sagen wie zu meinen Schülerinnen? Du sahst aus wie eine von ihnen, da konnte ich dich doch nicht auf der Bank sitzenlassen. Wie alt bist du eigentlich?«
»Achtzehn«, sagte Margot, verwundert, daß die Zahl noch zutraf nach der Wanderung durch solche Tage und Nächte. »Malen Sie nur Blumen?«
»Meistens. Am liebsten. Findest du das langweilig?«
»Ich weiß nicht.« Margot zögerte, Feen und Elfen, wo gab es die noch. »Ich weiß nicht«, sagte sie, »ob es die Zeit ist, nur für Blumen.«
Fräulein Roth schien nachzudenken. »Komm mit«, sagte sie und ging in das Nebenzimmer, wo über ihrem Arbeitstisch ein Druck hing, Sonnenblumen.
»Kennst du das?«
Margot nickte.
»Van Gogh war der unglücklichste Mensch von der Welt«, sagte Fräulein Roth, »und hat die schönsten Sonnenblumen gemalt.«
»Damals«, sagte Margot.
Weitere Kostenlose Bücher