Malenka
Apfelbaumchaussee, die nach Westen führte, glitzerte wie fließendes Wasser.
»Vollmond«, sagte Margot zu Lore, »da ändert sich das Wetter.« Sie sah sich noch einmal um, doch wozu eigentlich, ein fremder Ort, keinen der Höfe hatte sie je betreten, nichts zu erinnern, nur diese Nacht vielleicht und der Mond.
»Wir kommen wieder zurück nach Usedom, im Frieden«, sagte Lore. »Vor dem Krieg waren wir schon einmal hier. Das Hotel lag dicht beim Meer. Morgens gab es ganz knackige Brötchen, und bei einem Fischer haben wir Makrelen gegessen und Aale, frisch aus dem Rauch, noch warm.« Sie blieb stehen, ihr Bündel fiel auf die Erde. »Essen und ein Haus und keine Angst haben, dann kann man leben, hat mein Vater immer gesagt«, und Margot, für eine Sekunde, den Bruchteil einer Sekunde, nicht meßbar, so lang und so kurz, trat aus der Zeit heraus und saß neben ihrer Großmutter auf dem Sofa, roch Majoran, Zwiebeln, Lorbeerblatt, spürte den glatten Schürzenstoff, die rauhe Haut an den Fingerkuppen, den Atem. »Braucht Mensch gute Brot, warme Bett und kein Knüppel über Kopf«, sagte Anna Jarosch, »mußt du immer suchen Brot und Bett, Malenka, und weglaufen vor Knüppel.« Und dann wieder Lores Stimme: »Ich habe geglaubt, ich schaffe das nicht mehr, weiterleben, meine Mutter, die konnte es auch nicht. In Pyritz wollten sie uns kein Brot mehr verkaufen, wir backen nicht für Verräter, hat die Klitzow geschrien, und jeden Morgen Dreckhaufen vor der Haustür, und Rosemarie Hamel wollte in der Schule nicht neben mir sitzen.«
Margot legte den Arm um sie. »Wir sind zusammen. Und überhaupt, alles wird anders.«
»Ja«, sagte Lore. »Wir sind Schwestern.«
Sie brauchten sieben Stunden bis zu der großen Chaussee auf dem Festland, dreißig Kilometer fast ohne Pause. Erst beim Anblick der Pferdewagen, die an ihnen vorüberrollten, ließen sie sich fallen und schliefen trotz der Morgenkälte ein, in die Decken gewickelt, dicht aneinandergedrängt.
Als sie gegen Mittag aufwachten, lagen sie in der Sonne. Das Wetter war tatsächlich umgeschlagen, blauer Himmel statt Schneewolken, Vorfrühling, die Wälder am Horizont schimmerten schon grünlich. Sie schnitten Brot ab, dicke Scheiben, bestrichen sie mit Margarine und holten Wasser aus einem Haus in der Nähe. Dann gingen sie weiter, neben dem Treck her, Neustrelitz entgegen. Neustrelitz, ein Punkt nur, so dachten sie, auf der Linie, die Margot in Wiethes Landkarte gezogen hatte. Neubrandenburg, Neustrelitz, Pritzwalk, von dort nach Dessau, in einem Bogen um Berlin herum, und weshalb, fragt man sich, mußte es dieser Weg sein, ausgerechnet dieser, der zur einen Hälfte den Flüchtlingen aus dem Osten gehörte, zur anderen dem Militär, aber auch noch den Tieffliegern, vor allem ihnen, eine Straße des Schreckens, niemand wählte sie ohne Not. Endlos die Reihe der Fuhrwerke mit Hausrat, Nahrung, Saatgut, Ackergerät, darauf die Alten, die Kranken, die Schwangeren, die Kinder, und wer keinen Platz mehr bekam, lief nebenher, und wer starb, blieb liegen, wohin mit den Toten, wenn man, eingekeilt in die drängende Kolonne, nicht halten konnte, auch nicht ausweichen nach rechts oder links auf einen der schmalen Sandwege zwischen den Dörfern, in denen sich alles leichter finden ließ, eine Scheune zum Schlafen, ein Becher Milch, notfalls ein Grab.
Margot war es nicht, die auf der Chaussee beharrte. Sie hatte sich an die Böschung gesetzt und eine neue Linie in Wiethes Karte gezeichnet, von Dorf zu Dorf, an Wäldern und Seen entlang, quer durch Mecklenburg. Doch Lore weigerte sich, den Schutz der überfüllten Straße zu verlassen, geh, wenn du willst, ich nicht, hier sind wir sicher. Und müßig die Frage, ob sie wirklich daran glaubte, ob die Angst sie trieb oder etwas in ihr andere Ziele verfolgte, fest steht, daß beide beim Treck blieben bis Neustrelitz. Sie aßen Liesbeth Domalias Brot und Wiethes Büchsenfleisch, bekamen, wenn die Wagen stockten und am Weg gekocht wurde, hin und wieder Suppe von einer Bäuerin, schliefen in der ersten Nacht neben einem verschlossenen Heuschober, in der nächsten auf dem Linoleum einer Dorfschule und bewegten sich nach kurzer Ruhe weiter, alle bewegten sich weiter.
Am dritten Tag, nach neunzig Kilometern schon, erreichten sie kurz vor der Dunkelheit Neubrandenburg und suchten eine Schule zum Schlafen. Eine Schlafschule, das wußten sie inzwischen, gab es überall, in Neubrandenburg sogar eine Turnhalle mit Strohsäcken, und das Rote
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