Malenka
»Entschuldigen Sie, könnte ich vielleicht etwas Wasser bekommen?«
Fräulein Roth lief aus dem Zimmer und kam mit einem gefüllten Glas zurück. »Ich habe auch gleich Teewasser aufgesetzt. Und was die Blumen betrifft...«
Margot trank, stellte das Glas hin, war plötzlich müde, mit ganz anderen Bildern im Kopf, doch Susanne Roth ließ sich nicht beirren. »Blumen sterben in jedem Herbst und kommen im Frühling wieder, so schön wie vorher. Blumen sind Hoffnung. Tod und Hoffnung, hat das etwa nichts mit uns zu tun? Stell dir vor, dieser Moment, wenn nicht mehr geschossen wird, und dann die Hoffnung, wunderbar. Das ist es, was ich malen will.«
»Bis es wieder losgeht«, sagte Margot, der diese Art Hoffnung angst machte.
»Nach diesem Krieg nicht.« Fräulein Roth hob die Hände, eine beschwörende Geste geradezu, und etwas von der Emphase sprang auf Margot über. Ich will daran denken, dachte sie, versprach es Anna Jarosch und Lore Möller, versprach es Lotte Lerche und Dobbertins und Liesbeth Domalla, wenngleich die sanfte Blumenwelt des Fräulein Roth ihr weiterhin verdächtig blieb. »Van Goghs Sonnenblumen«, sagte sie, »sind eigentlich nicht nur schön, sie können einem auch angst machen.«
Susanne Roth lächelte, machte das Bett für Margot in ihrem Arbeitszimmer zurecht und teilte am Abend die Kartoffeln mit ihr, den Quark und die eingelegten Gurken. Sie hatte den Tisch gedeckt, und während sie aßen, meldete der Wehrmachtsbericht einen Luftangriff auf Hannover.
»Schon wieder Hannover!« rief Fräulein Roth erschrocken. »Hoffentlich nicht die Heinrichstraße. Dort wohnt meine Schwester.«
Es war wie eine Klingel, die anschlug. Plötzlich kannte Margot ihr Ziel. In dieser Nacht, als sie versuchte, auf Susanne Roths Sofa einzuschlafen, dachte sie an Ulrich Jensch, lag in seinem Arm, hörte seinen Atem, nur das Gesicht ließ sich schon nicht mehr ganz wiederfinden. Ein anderes Gesicht schob sich darüber. Sie stand auf, machte Licht und öffnete den Deckel des Medaillons. Robert Kremer, Hannover, Heinrichstraße. Ihr Vater. Sie war nicht allein. Sie hatte einen Vater. Er stand vor einem großen Haus und wartete auf sie, endlich, warum bist du nicht früher gekommen.
Es bestand kein Grund für solche Euphorien, eine Fata Morgana könnte man es nennen, falsche Spiegelungen der Seele, Wolkenhäuser, und die Begrüßung durch den leibhaftigen Ingenieur Kremer glich Margots Phantasiebild so wenig wie die meisten Träume der Wirklichkeit. Kein Gedanke daran, daß er mit ausgebreiteten Armen vor der Haustür wartete, schon deshalb nicht, weil dieses Sündenkind, dessen Existenz er durch die Zahlung von runden viertausend Mark für abgebüßt hielt, völlig überraschend auftauchte. Er war neunundvierzig Jahre, in guter Position bei der Hanomag und Parteimitglied, sah zudem der Silberhochzeit entgegen, und wäre ihm Margots Plan, sein Leben zu stören, rechtzeitig bekannt gewesen, hätte er sie vermutlich schon am Bahnhof abgefangen. Eine Illusion, dieser Vater, Margot sollte es merken.
Von den wenigen noch intakten Kirchtürmen schlug es gerade fünf, als sie in Hannover eintraf, mit zwei Stunden Verspätung wegen der vielen Truppentransporte, die durchgelassen werden mußten. Fräulein Roth hatte Margot zum Zug begleitet und immer wieder versichert, das Sofa stünde weiterhin bereit. »Nasse Füße brauchst du nicht zu bekommen, Kind«, eine Anspielung auf das Wetter, denn der Himmel war grau geworden. Schon während der Fahrt fielen die ersten Tropfen, und in Hannover regnete es so heftig durch das hölzerne Notdach der Bahnhofshalle, daß die Passanten im Wasser schlurften. »Heinrichstraße? Ausgang Raschplatz!« rief man Margot zu. Der Weg führte an Ruinen vorbei, ausgebrannte Fensterhöhlen, zwischen den Trümmern wühlten Menschen mit bloßen Händen im Schutt.
Doch dort, wo die Heinrichstraße sich dem Grün der Eilenriede näherte, gab es eine Reihe unbeschädigter Gebäude, unter ihnen auch die Nummer, die sie suchte: ein imposantes dreistöckiges Mietshaus aus roten Ziegeln, die Balkone und Erker, Simse und Friese mit grauen Stuckornamenten geschmückt, herrschaftlich hätten es die Pyritzer genannt, die dergleichen nur auf Reisen in größere Städte zu sehen bekamen. Es gefiel Margot, daß ihr Vater so wohnte. Sie nahm Anna Jaroschs großes Tuch vom Kopf, kämmte sich, stieg die Treppe hinauf, atemlos vor Spannung oder auch Furcht.
Die Tür wurde von einer Frau mittleren Alters
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