Malenka
Hannover, verursachten ihr kein Unbehagen wie die Stendaler Blumenidyllen, zu denen zurückzukehren sie sich fast schon entschlossen hatte, schlechten Gewissens, weil es so widerwillig geschah und Fräulein Roth das nicht verdiente.
Das Pfarrhaus hatte sich geleert inzwischen, Ruhe vor dem Sturm, nannte es Frau Schaper, bald würde der nächste Schub anrücken, ab vier ginge das Gedränge los. »Der reine Auszug aus Ägypten«, sagte sie, »nur, daß es kein Manna regnet«, ein Vergleich, den der Pastor ihr verwies: Damals habe Moses die Flüchtigen geführt, und heutzutage...
»Martinus, ich bitte dich«, unterbrach ihn seine Frau, und er wandte sich an Margot. Wo sie denn hinwolle? Zu Verwandten?
Sie legte ihre Lebensmittelkarten auf den Tisch und einen Zehnmarkschein. »Ich habe niemanden mehr.«
»Keine Seele?«
Nein, sagte sie, und wenn es in Hannover irgendwo ein Zimmer gäbe, würde sie am liebsten bleiben. Bezahlen könne sie es, und sie sei schon so lange unterwegs.
»Ein Zimmer in Hannover? Bei den vielen Ausgebombten?« winkte Frau Schaper ab, und der Pastor fragte, wie alt Margot denn sei.
»Achtzehn.«
»So ein Kind noch und kein Schutz mehr in der Familie!« Er sah seine Frau an, die mit den Schultern zuckte, man wisse das doch, zahllose Menschen stünden auf der Straße und brauchten Hilfe, womit er sich nicht zufriedengab. »Dieses junge Mädchen steht aber in meiner Studierstube!« rief er ärgerlich, ein alter Streit offenbar, der hier ausgetragen wurde: sie, die sich abhetzte für die Menschheit an sich, während ihn die Last des einzelnen bekümmerte.
»Sodom und Gomorrha«, murmelte er. »Herr, du läßt es fürwahr über uns kommen«, und beide schwiegen.
»In Gottes Namen also.« Frau Schaper stand auf.
»Kommen Sie. Vielleicht können Sie uns ja ein bißchen im Haus zur Hand gehen.«
Das Zimmer oben im zweiten Stock blickte zum Garten. Der Voile vor den Fenstern war mit blauen Punkten bedruckt, der Schrank blau gestrichen, auch die Kommode und das Bett. Auf dem Fußboden lagen dicht nebeneinander drei Matratzen.
»Unsere Tochter hat hier früher geschlafen. Sie wohnt jetzt in Aachen.« Frau Schaper zog das Laken von einer Matratze und faltete es zusammen. »Ja, da können ab heute wohl drei Menschen weniger im Haus unterkriechen.«
Sie war eine große, knochige Frau, nichts Überflüssiges an ihr, und das Gesicht so streng, daß Margot schon wieder begann, Susanne Roths Angebot in Erwägung zu ziehen. Doch da lächelte Frau Schaper ihr zu. »Mögen Sie sich wohl fühlen bei uns, Margret«, sagte sie. Ihr Gesicht wurde weich für einen Moment, das genügte.
Noch an diesem Nachmittag brachte Margot die Anmeldeformulare zum Polizeirevier. Ein Wohnsitz, der letzte Schritt in die neue Identität. Wie gesagt, alles war wie von selbst gekommen. Sie hätte weglaufen können. Aber weggelaufen war sie schon. Nun wollte sie bleiben.
Verlier deinen Namen, und du verlierst dich selbst - einer der Sätze, die Margot später finden wird, älter geworden und mit den Erfahrungen hinter sich, die zu machen sie sich gerade anschickt, ins Blaue hinein. Woher sollte sie im März 1945 wissen, daß sie mit dem Namen auch die Biographie wegwarf und fortan, das Haus ihrer Erinnerungen versiegelt, ohne Vergangenheit vor die Welt treten mußte. Anna Jarosch, Dobbertins, die Kleine Woll-weberstraße, für immer getilgt diese Spuren, Lotte Lerche verstummt, und wer wird noch von Patscheks Schuld sprechen. Der Madüsee schwindet und die Weizenfelder der Kindheit, und Pyritz, obwohl vorhanden in dem offiziellen Lebenslauf, darf nicht mehr erstehen in Bildern und Worten, denn jedes Wort zuviel kann eine Frage hervorrufen, und Fragen sind die Feinde der Lügen. Kein Mellenthin mehr, weder Liesbeth Domalla noch Wiethe, und von der Flucht nichts als ein Satz, ich war auf der Flucht. Die Toten sterben noch einmal im Schweigen, nur Lemuren bleiben dem Gedenken, jene von Tieffliegern erschossenen Eltern, die es nie gegeben hat. Margot Jaroschs Erinnerungen, die Margret Möller nicht kennen darf, ein Zwischenreich, in dem sie sich bewegte mit dieser halb gestohlenen, halb erdachten neuen Identität.
Bemerkte Margot, was mit ihr geschah? Nein, nicht sofort, nicht in den ersten Wochen, auch nicht im ersten Jahr, es brauchte seine Zeit. Obwohl es Zeichen gab, frühe Hinweise, den 22. März beispielsweise, Lores Geburtstag, als beim Frühstück eine Kerze neben ihrem Teller brannte, Pastor Schaper auf dem Harmonium
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