Malenka
uns die Gnade eines ruhigen Schlafes ohne Fliegeralarm und Bomben und allen Menschen auf dieser Erde, die genauso bangen wie wir.«
Wahrscheinlich hatte er schon seit langem jeden Abend um diese Gnade gefleht, nicht immer mit Erfolg, wie die Ruinen draußen und anderswo bezeugten.
In dieser Nacht jedoch heulten zumindest in Hannover keine Sirenen, und als das Haus schlief, tat Margot, was sie schon davor in Fräulein Roths Arbeitszimmer versucht und nicht über sich gebracht hatte: sie öffnete Lores Tasche mit der gleichen Scham wie seinerzeit Anna Jaroschs Geheimfach, verzeih mir, es kann dich ja nicht mehr kränken. Ein Schal lag darin, Handschuhe, Taschentücher, das Portemonnaie, ein winziger Teddybär aus braunem Plüsch. Dann ein Umschlag mit Lores Geburtsurkunde, Familienfotos, ihrem Abiturzeugnis und jenem schauerlichen Dokument, das Margot schon einmal gesehen hatte, den amtlichen Bescheid nämlich von Dr. Möllers Hinrichtung, eine Abschrift des Urteils nebst Kostenabrechnung für die Todesstrafe, Gebühr gemäß §§ 49, 52 d. GKG, insgesamt 782,92 Reichsmark, davon 132,18 für die Strafvollstreckung, zahlbar sofort. Außerdem enthielt die Tasche sieben Hundertmarkscheine, deren Existenz Margot ebenfalls bekannt war. Eine Adresse von Verwandten war nicht zu finden, kein Brief mit einem Absender, dem Lores Tod mitgeteilt werden konnte. Was die Dessauer Verwandtschaft betraf, so hatte Lore sie Nazis genannt, ihnen die Mitschuld am Selbstmord der Mutter gegeben und jede Verbindung abgebrochen. Margot kannte nicht einmal die Namen, ein Erbe ohne Erben, und allmählich, während die Nacht verging, nahm sie diese Hinterlassenschaft in Besitz. Recht? Unrecht? Es gab zwei Argumente, denen Margot vertraute: »Wir sind Schwestern«, hatte Lore am Anfang der Flucht gesagt. Und das zweite rief Anna Jarosch ihr zu: »Wenn kein Brot in Haus, Malenka, kann Mensch nicht nur beten.«
Möglich, daß es dieser Spruch war, der sie dazu trieb, Lores Abiturzeugnis in der Hand zu behalten, als sie die übrigen Papiere in den Umschlag zurücklegte. Leonore Margret Louise Möller - Margret, davon hatte sie nichts gewußt bisher -Deutsch gut, Geschichte gut, Französisch befriedigend, Englisch gut, Mathematik ausreichend, Physik und Chemie ausreichend, Erdkunde befriedigend. Ich hätte ein besseres Zeugnis bekommen, dachte Margot, ein viel besseres. Aber ich habe kein Zeugnis, keinen Vater, keinen Namen mehr, was soll werden. Noch weiß sie es nicht, aber die Gedanken sind da, Gedanken in der Studierstube von Pastor Schaper, gute oder schlechte, wer will das beurteilen. Es hat niemandem weh getan, wird Margot einmal sagen, höchstens mir selbst.
Den Ereignissen am nächsten Tag brauchte sie nicht hinterherzurennen. Alles kam beinahe von selbst, obwohl sie später, wenn auch ironisch, meinte, sie habe das alles wohl herbeigedacht. Aber vielleicht könnte man auch sagen, daß sie dem, was geschah, nicht auswich, oder treffender: Sie ging ihm entgegen.
Den Anfang machte ihre Tischnachbarin vom Abend zuvor, die nun beim Frühstück, als in der Diele Malzkaffee ausgeteilt wurde, plötzlich wieder neben ihr saß, mit begehrlichen Blicken auf das Neubrandenburger Schmalz.
»Soll wohl schmecken, wie?« Sie beugte sich vor, um daran zu riechen. »Wacholderbeeren! Ich bin aus Elbing, da tun wir auch Wacholder ans Schmalz.«
»Nehmen Sie sich doch etwas«, sagte Margot, und die Frau fuhr mit ihrem Messer in die Büchse. »Wollen Sie da nun hin?«
»Wohin?« Margot, übermüdet und lustlos, streute sich Salz auf ihr Brot. »Was meinen Sie denn?«
»Na, was wohl, zum Registrieren natürlich«, sagte die Frau. »Ich kann ja für Sie bürgen, wenn Sie wollen. Geht alles für ein paar Zuckermarken. Wie heißen Sie eigentlich?«
Die Frau war etwa fünfzig, mager, die Haut von der Arbeit im Freien ledern und eingekerbt. Mit ihren flinken Augen sah sie aus wie jemand, der Blößen schnell erkennt und Vorteile zu nutzen weiß, und Margot, unter dem Zwang, Auskunft zu erteilen, sagte, was ihr gerade einfiel, vielleicht auch schon im Kopf saß: »Möller. Margret Möller. Und Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Aber gewiß doch.« Die Frau griff noch einmal nach dem Schmalz. »Wo ich doch früher Dienstmädchen war bei euch in Pyritz. Marjellchen.« Sie ließ ihre Blicke über Margot wandern. »Sieht doch jeder, daß du von besserer Herkunft bist. Was hat denn dein Vater gemacht?«
Diesmal zögerte Margot. Doch der erste Schritt war getan
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