Malenka
durfte sie gehen.
»Möchten Sie denn unbedingt noch verhaftet werden?« fragte sie trotzdem und hielt ihm eins von den Flugblättern hin, die verteilt worden waren: »Kein Deutscher gibt kampflos auf! Tod den Verrätern!«
»Ihnen soll nichts passieren, Herr Pastor, ich will es nicht«, sagte sie, worauf er seinen Sessel verlassen hatte, um ihr, im Zimmer hin und her wandernd, zu erklären, daß sie keine Angst zu haben brauche, er genieße Narrenfreiheit bis zu einem bestimmten Grad.
»Sie kennen doch sicher den Namen Johannes Schaper?«
»Den Flieger?« fragte sie.
»Major Schaper, unser Sohn«, sagte er. »Bisher hat er, wenn ich richtig informiert bin, mehr als siebzig Flugzeuge abgeschossen und dafür das Ritterkreuz mit Eichenlaub erhalten aus der Hand des Führers. Den Vater von Johannes Schaper holen sie nicht, jedenfalls nicht so schnell.«
Auf dem Sekretär standen nur Fotos der Tochter. Das Bild von Johannes, sagte der Pastor, hätten sie entfernt, wenn auch nicht aus dem Herzen, wo es als Stachel bliebe bis zum letzten Tag.
»Über siebzig Flugzeuge. Und in jedem ein Mensch.«
»Es ist Krieg«, murmelte Margot.
»Nein, das ist keine Rechtfertigung.« Pastor Schaper hob die Hände wie bei einer Predigt, wenn er Gott als Zeugen anrief. »Unser Schwiegersohn und viele andere junge Männer sind auch Soldaten und müssen Gewehre in die Hand nehmen und auf Menschen schießen. Aber sie empfinden keinen Triumph dabei und haben kein Eichenlaub für siebzig Tote bekommen und lassen sich nicht als Helden des Führers feiern. Wenn ich von Schuld und Strafe spreche, dann spreche ich von meinem Sohn Johannes und mir. Und wahrlich, wenn ich zu den Helden Gottes gehörte, wäre meine Rede nicht voller Vorsicht und verschleiert, sondern ja ja und nein nein, wie die Bibel es fordert, und ich würde büßen müssen dafür, daß ich keinen besseren Menschen aus diesem Sohn gemacht habe. Aber ich bin furchtsam im Geist, mein Fleisch ist schwach und furchtet sich vor Schmerzen, und so muß ich wohl dereinst an einem anderen Ort büßen.«
Schon damals im Studierzimmer hatte Margot Tränen hinter den Brillengläsern gesehen. Nun war der Krieg zu Ende, und er stand vor seiner Gemeinde und brauchte nichts mehr zu verbergen: »Wir alle sind schuldig geworden, und möge Gott uns gnädig sein.«
Ein Echo aus vielfachem Schluchzen kam zurück, und wer will sagen, ob Schuldgefühle die Gründe waren oder eher Verzweiflung über die eigene Not und dazu die Hoffnung, daß es nun sein Bewenden haben möge, keine gefallenen Männer, Söhne und Brüder mehr, keine Todesangst mehr in Kellern und Bunkern, nie wieder ein Sonntag wie der 25. März, an dem noch einmal über zweihundert Flugzeuge die Nordstadt zerbombt hatten, ein Ende, Schluß, Frieden. »Nun danket alle Gott«, sangen sie nach fünf Jahren Krieg und zwölf Jahren Hitlerherrschaft, die Opfer noch nicht gezählt, »nun danket alle Gott mit Herzen, Mund und Händen«, und Margot verstummte mitten im Lied, ein Entsetzen, das ihr die Stimme verschlug, soviel Elend, wofür war da zu danken. Und als der Pastor zum Schluß betete: »Allmächtiger, der du uns erlöst hast in deiner Gnade von Krieg und Tyrannei«, erwog sie, ihn später zu fragen, ob der Allmächtige dies alles etwa zugelassen habe, um hinterher gnädig sein zu können. Aber sie ließ den Gedanken fallen, auch, weil sie Pastor Schaper nicht kränken wollte.
Frau Schaper, die zu Hause geblieben war, weil um diese Zeit die Flüchtlinge einzutreffen pflegten, wartete schon ungeduldig. »Lieber Himmel, so spät, Margret, da konnte mein Mann wohl wieder kein Ende finden«, sagte sie und gab ihr den langen hölzernen Rührlöffel für den Suppentopf in die Hand, Brotsuppe diesmal, aus Stücken, die sie gemeinsam bei Nachbarn gesammelt hatten. Im Pfarrhaus bettelten jetzt noch mehr Flüchtlinge um ein Nachtlager, auch immer wieder Soldaten darunter, abgerissen und abgekämpft auf dem Weg nach Hause. Ein Netz aus Pflichten, in das Margot gefallen war. »Helfen Sie uns ein bißchen?« hatte Frau Schaper am ersten Morgen nach dem Frühstück in der Studierstube gefragt, dem einzigen noch freien Raum, überall sonst Betten, Matratzen, Strohsäcke, und seitdem hetzte sie durch die Stockwerke, säuberte Fußböden, Töpfe und Teller, putzte Gemüse, schälte Kartoffeln, rührte Suppen, schnitt Brot, nahm Leute auf, schickte andere fort, verband Wunden, tröstete, schlichtete Streit, pausenlos, wie dieses Haus es zu
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