Malenka
antwortete nicht, und die Frau sagte zögernd: »Es ist ja schon fast dunkel draußen.«
Margot nahm das Schreiben vom Tisch, riß es in der Mitte durch und gab es dem Mann, der ihr Vater gewesen war. Dann verließ sie den Raum.
»Aber Fräulein!« rief die Frau, und Robert Kremer lief hinter ihr her, um die Sachen aus der Küche zu holen. Im Flur standen sie sich gegenüber, nur durch die Glastür des Herrenzimmers kam Licht.
»Glauben Sie mir, es tut mir leid«, sagte er. »Eine Tochter... Haben Sie denn auch einen Beruf?«
Margot knöpfte den Mantel zu.
»Wann ist Ihre Mutter eigentlich gestorben?«
Sie sah ihn an, jener Blick, der schon Fräulein Zink in Verlegenheit gebracht hatte, und nahm ihm das Bündel aus der Hand. »Hoffentlich denken Sie nicht zu schlecht von mir«, sagte Robert Kremer, aber das hörte Margot schon nicht mehr.
Draußen auf der Straße, vor dem Haus mit den Erkern, Balkonen und Simsen, löste sie das Bild aus dem Medaillon, und während die Fetzen in die Nässe fielen, gab sie sich ein Versprechen: nie wieder ohne Heimat und ohne Haus. Nie wieder betteln, nie wieder davongejagt werden. Nie wieder. »Fehlt Kind gute Vater, muß es haben gute Kleid«, hatte Anna Jarosch einmal gesagt, vor hundert Jahren zu Frau Dobbertin.
Die folgende Nacht verbrachte Margot in der Studierstube des Pastors Martinus Schaper, dessen Dreifaltigkeitskirche in der Bödeckerstraße ihr vor einem neuerlichen Regenguß Schutz gegeben hatte, gerade als der sonntägliche Abendgottesdienst zu Ende ging. Sie hörte noch das Schlußgebet, in das er neben den Oberen von Staat und Kirche, den Soldaten an der Front, den Kranken und Ausgebombten in der Heimat auch alle Flüchtlinge aus dem Osten des Reiches einbezog. »Gib ihnen ein Dach, Herr, gegen Regen und Kälte, ein Bett, darin sie Ruhe finden können, und stärke sie durch deinen Trost.«
So, wie er da vorn am Altar stand, mit dem weißen Spitzbart, dem Bäffchen darunter, sah er aus, als habe ein alter Meister ihn gemalt, und Margot, nur halbherzig auf Fräulein Roths Sofa erpicht, fragte ihn am Kirchenausgang, wo man in Hannover eine Unterkunft fände.
»So spät noch?« Pastor Schaper schüttelte bekümmert den Kopf. »Da finden Sie gewiß nichts mehr. Wer gehört denn noch alles dazu?«
»Niemand.«
»Und die Eltern?«
»Ich habe keine Eltern mehr«, sagte Margot, worauf Pastor Schaper »O Herr« murmelte und sie mitnahm ins Pfarrhaus, das allerdings, wie er sagte, voll sei wie seinerzeit Bethlehem und eigentlich kein Platz mehr in der Herberge.
»Um Himmels willen, noch jemand?« protestierte die abgehetzte Pastorin, aber ihr Mann fragte so eindringlich, ob man dieses junge Mädchen etwa schutzlos der Nacht preisgeben dürfe, daß sie in die Studierstube rannte, den Teppich vierfach zusammenlegte, ein Laken darüberwarf und eine wollene Tischdecke. »Das ist alles, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen«, sagte sie, kurz angebunden vor Eile. »Oben gibt’s gleich was zu essen, Marken mitbringen.«
Sie habe keine Lebensmittelmarken, sagte Margot, worüber sich die Pastorin verwunderte. Ob sie denn nicht als Flüchtling registriert worden sei, aber in Gottes Namen, ein Teller Suppe wäre wohl übrig.
»Herr, segne unsere Speisen«, betete Pastor Schaper in der großen Diele des Pfarrhauses, wo sich an die dreißig Menschen um den Tisch drängten. Frauen, Kinder, alte Männer, und ein ernster Martin Luther von der Wand auf diese Zustände blickte, »vergib uns unsere Schuld und hilf uns auch fürderhin weiter, siehe, wir sind gestraft genug«, Worte, bei denen einige Frauen in Tränen ausbrachen, mancher aber auch, wie Margot bemerkte, die Stirn runzelte. Es gab eine dicke Milchsuppe, und Margots Nachbarin erklärte ihr mit starkem ostpreußischem Zungenschlag, wo man sich registrieren lassen müsse und welche Papiere man dafür brauche.
»Ich habe meine Papiere verloren«, sagte Margot, entschlossen, die Behörden zu meiden. Jarosch, wer konnte wissen, ob nicht nach diesem Namen gefahndet wurde.
Viele hätten keine Papiere mehr, sagte die Frau, und was man in diesem Fall brauche, sei ein Bürge. Wo sie denn herkäme?
»Aus Pyritz.« Eine unüberlegte Antwort, denn sogleich rief die Frau: »Pyritz! Ist hier wer von Pyritz?« Niemand meldete sich zu Margots Erleichterung. Pyritz, auch diesen Namen durfte sie vorerst nicht mehr erwähnen.
»Herr, wir danken dir, daß du uns gesättigt hast«, betete Pastor Schaper nach dem Essen, »und schenke
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