Malenka
Auch Zuckerrüben nahmen sie gern mit, um Sirup daraus zu kochen, und träumten davon, daß ihnen, wie Frau Hannewald es formulierte, mal ein schönes fettes Huhn nachlaufen würde.
»Ich war mein Leben lang ein ehrlicher Mensch«, sagte sie bei ihren endlosen Monologen abends in der Küche. »Ehrlich währt am längsten. Aber sollen wir deswegen verhungern? Uns hat ja auch keiner gefragt, als sie unsern Erwin weggeholt haben, und nun ist er immer noch in Rußland, und wer weiß, ob wir ihn wiederkriegen.«
Die Küche war der einzige warme Raum in der Wohnung am Abend. Margot hatte ihre Brikettzuteilung, fünfzig Pfund, sechsunddreißig Stück im ganzen, zu dem Zentner von Hannewalds gelegt und war auch einmal mit ihnen »auf Holzaktion« gegangen, zum Hainberg nämlich mitten in der Nacht, wo sie dünne Buchenstämme handwagengerecht zersägten und erstaunlicherweise unbehelligt nach Hause schaffen konnten, gleich nach oben in die Küche, damit die Nachbarn nichts merkten. Dort also wurde, sobald Otto Hannewald von der Arbeit kam, der Herd geheizt. Die Universität schloß um acht, dann gesellte sich auch Margot dazu, und sie saßen an dem Tisch mit dem blau-weiß karierten Wachstuch, das brüchig war und abgewetzt von zwanzig Jahren Familienleben. Solange läge es dort schon, erzählte Frau Hannewald, und dort solle es bleiben, schließlich sei Erwin daran groß geworden. Erwins Fotos standen auf dem Küchenschrank, ein Kinderbild im Matrosenanzug, die Hose bis zum Knie und dunkle Wollstrümpfe darunter, ein anderes von seiner Hochzeit, schließlich der Soldat. Frau Hannewald redete, während ihr Mann langsam einzuschlafen begann, ununterbrochen von diesem Sohn, zu Margots Qual allmählich, die es kaum noch aushielt, Erwingeschichten zu hören, immer dieselben, denn allzu ereignisreich war sein Leben bisher nicht verlaufen, und eigentlich mußte sie ihre Skripten ins reine schreiben, lesen, Protokolle oder Referate vorbereiten, Arbeiten, zu denen der Tag ihr wenig Zeit ließ.
Von den Gebäuden der Universität waren einige beschädigt, andere beschlagnahmt, so daß die Vorlesungen in allen möglichen noch verfügbaren Instituten stattfinden mußten, quer über die Stadt verstreut. Margot hatte Deutsch als Hauptfach gewählt, und zwar nicht nur, weil die Germanisten bei der Aufnahmeprüfung im Ruf besonderer Konzilianz standen, sondern vor allem wegen ihrer Liebe zur Literatur, und als Nebenfächer Englisch und Geschichte. Sie lief vom Seminar im Michaelishaus zum mathematischen, kunsthistorischen, völkerkundlichen Institut, zur Mineralogie, Geologie, Anatomie, die Prinzen- und Weenderstraße entlang, Hospitalstraße, Bürgerstraße, Zweiundachtziger Platz, zurück in die Bahnhofsgegend, dann wieder zur Mensa am Wilhelmsplatz, mit ihren alten Schuhen, auf deren kaputte Sohlen der geschickte Otto Hannewald Stücke einer alten Fahrraddecke genagelt hatte. »Das deutsche Drama des Barock«, »Die deutsche Lyrik von Nietzsche bis zur Gegenwart«, »Englische Literatur und Kultur im 17. Jahrhundert«, »Englische Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert«, »Einleitung in die Geschichtswissenschaft«, »Deutsche Geschichte im Zeitalter der Staufer«, dazu Seminare in jedem Fach und Einführungen ins Gotische, Althochdeutsche, Altenglische, außerdem mehrere öffentliche Vorlesungen über Sokrates, Dante, die Propheten, denn dort, so hieß es, ginge man hin. Und weil bis Ende des vierten Semesters das große Latinum vorgelegt werden mußte, fing sie auch damit gleich an, Latein für Studenten aller Fakultäten, zweimal pro Woche jeweils von neunzehn bis zwanzig Uhr.
Ein Überschwang und Übermaß, aber immer noch zu wenig, dachte sie, bei der Fülle des Angebots, und schreckte eines Nachts aus dem Schlaf, wie im Bodenlosen plötzlich, in einem Nebel von Stoff, Begriffen, Meinungen, Gegenmeinungen, Kategorien, keine Zusammenhänge mehr, die sich fassen ließen, was tat sie, warum, wozu. Die Frage lief neben ihr her. Und eines Abends versuchte sie, das Unbehagen auszusprechen, vielleicht sogar loszuwerden, in einer Runde, mit der sie nach dem Lateinkurs meistens noch zusammensaß, vier Philologen, eine Jurastudentin, ein Mediziner.
»Althochdeutsch. Alles, was passiert ist mit uns und was auf uns zukommt und was wir tun müssen, und dann Althochdeutsch.«
Sie hockten dicht nebeneinander an dem Ecktisch im »Stübchen«, der kleinen Kneipe gegenüber von Karstadt, wo es warm war, voll und gemütlich, allerdings teuer. Ein
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