Malenka
Glas Heißgetränk, einziger Posten auf der Karte, Ersatz für Bier, Schnaps, Wein, kostete sechzig Pfennig, weitaus mehr als andernorts, weil, wie jedermann wußte, die Wärme, die der eiserne Ofen verströmte, sich nur über dunkle Kanäle beschaffen ließ. Er stand mitten im Raum, schwarz und bullernd, auch das lange Rohr blies noch Hitze von sich, und auf der Platte brodelte besagtes Heißgetränk, ein Erzeugnis der sonst darniederliegenden chemischen Industrie, rot wie Glühwein, saccharinsüß, im Aroma etwas widerlich, aber mangels Alternative durchaus beliebt und von angeblich sogar stimulierender Wirkung. Es gab Heißgetränkzecher, die behaupteten, einen Schwips davon zu bekommen.
Neben Margot saß Dieter Maas, ehemaliger Panzerjäger und Oberleutnant, jetzt Germanist im dritten Semester.
»Was meinst du denn, was wir tun müssen«, wollte er wissen, und Margots Antwort, »dafür sorgen, daß so etwas nicht wieder passiert«, versetzte ihn in zornige Heiterkeit. »Eine Idealistin«, rief er, »wir haben eine kleine Idealistin am Tisch, Prost auf die unverwüstliche weibliche Naivität«, und erklärte, daß er für seine Person aus einem einzigen Grund studiere, nämlich um möglichst schnell die Prüfung hinter sich zu bringen und Studienrat zu werden, mit hoffentlich gutem Gehalt irgendwann, und zu diesem Zweck würde er alles lernen, was man verlange, von ihm aus auch, woher die Löcher in den Käse kämen. Die Welt habe er schon einmal retten wollen und dafür jahrelang im Dreck gelegen, und jetzt müsse er sich als Verbrecher beschimpfen lassen, er sei bedient. »Idealismus. Davon kommt doch der ganze Mist. Und wenn dich Althochdeutsch so stört, dann weiß ich wirklich nicht, warum du hier sitzt. Es gibt genug Leute, die gern einen Studienplatz hätten.«
»Und was willst du deinen Schülern später erzählen?« fragte Margot.
»Was in den Büchern steht«, sagte er, »kein Wort mehr und kein Wort weniger. Damit sind alle Probleme gelöst.«
Es war nicht die Antwort, die Margot brauchte inmitten der Unordnung, und denkbar, daß Harald Hellkamp bei entsprechender Gelegenheit schon jetzt leichtes Spiel gehabt hätte. Die Gelegenheit jedoch ergab sich nicht.
»Geht’s gut bei Hannewalds?« fragte er, als sie sich wieder einmal zufällig begegneten, vor dem Haus in der Roten Straße, wo eine Speckspende des irischen Volkes verteilt wurde, zweihundertfünfzig Gramm für jeden Studenten. Er war allein und wollte sie ins Café Hanke einladen, zu der weithin gerühmten Cremetorte, die man dort gegen Brot-, Fett- und Zuckermarken bekam. Aber ausgerechnet an diesem Nachmittag mußte Margot ihr Referat im Proseminar halten, so wurde nichts daraus. Sie trennten sich wieder, noch blieb Zeit für Ulrich Jensch.
Gleich nach Neujahr war ein Brief von ihm eingetroffen, Ulrich Jensch, das Phantom, auf das sie schon so lange wartete, vielleicht weil die Nacht bei Neustrelitz eine Art Sakrament für sie bedeutet hatte, mit dem Tod als Zeugen.
»Margot Malenka«, schrieb er, »ich bin schon seit Oktober zu Hause. Aber ich war zu kaputt, um mich zu melden. Jetzt gibt es mich wieder, ich denke an Dich, wie mag es Dir gehen? Weißt Du überhaupt noch, wer ich bin?«
»Ja, ich weiß es«, schrieb Margot zurück, seitdem gingen Briefe hin und her, ihre mit langen Berichten über äußere und innere Ereignisse, die seinen kürzer und lakonischer. Viel zu lakonisch manchmal, gemessen an dem, wonach sie sich sehnte, doch dann auch wieder Zärtlichkeiten, ich kann die Stunden mit dir nicht vergessen, ich streichle deinen Mund, meine Hände fahren durch dein Haar, in dieser Art etwa. Mein Kleines, nannte er sie, Malenka-Seelchen, beunruhigend dies alles, Wechselbäder zwischen Hoffnung und Enttäuschung, besonders, als er vom Wunsch nach einem Wiedersehen sprach, es bei den Worten jedoch bewenden ließ.
Vielleicht will er ein Zeichen von mir haben, dachte Margot und gab es ihm: »Ich möchte Dich auch treffen. Wann wohl? Und wo?«
Doch Ulrich Jensch hatte mittlerweile bei Siemens angefangen, wir bauen auf, schrieb er, Urlaub frühestens im Herbst, und weil sie die Briefe nicht mehr ertrug, ohne sein Gesicht, überhaupt wissen wollte, wer er in Wirklichkeit war, beschloß sie, nach Berlin zu fahren.
Die Reise mit dem Kohlenkoffer. Später, in den fetten Jahren, als die Bedürfnisse, Sehnsüchte, Notbehelfe von damals zu Schwänken wurden, die man sich beim Wein erzählte, hätte man über das Absurde dieser Geschichte
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