Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
verschüchterter, aber auch etwas störrischer Miene vor dem Bild stehengeblieben. Der Maler sah, daß er ihn noch etwas fragen wollte. Es war inzwischen auf der Straße sehr trubelig geworden. Durch das offene Fenster drang das Geschrei eines Fischweibs, schon bald übertönt von einem tutenden Schiff, das über die Oude Schans Richtung IJ fuhr. Der Schüler hatte den Lärm mit einer Frage bezüglich Hell und Dunkel durchdrungen, auf die der Maler gerade antworten wollte: »Das sind in der Tat zwei völlig verschiedene Dinge. Aber sie sind durch ein geheimes System von Gängen direkt miteinander verbunden, das ist dir doch klar, mein Junge?«
Doch da war direkt vor dem Haus eine Rauferei zwischen Hunden ausgebrochen.
Die erstaunliche Uhr begann zu knacken. Im Laden warfen Apotheker und Kunde sich einen kurzen Blick zu.
Genau als das Ding elf Uhr schlagen wollte, wurde es von einem dröhnenden Schlag draußen übertönt. Einem Schlag, den man nicht nur hört, sondern vor allem, wie eine Faust in der Brusthöhle, spürt. Der Apotheker und der Maler wandten den Blick ab. Elf Glockenschläge dauern lange, wenn man mitzählt und sich unterdessen vorstellt, was wenige hundert Meter entfernt in Übereinstimmung mit dem Gesetz geschieht.
»Vorwärts.«
Das Mädchen gehorchte. Sie kam durch die Seitentür im ersten Stockwerk heraus, aufs Schafott, von zwei Gefängniswärtern an den Oberarmen gehalten. Sie trug die Ersatzsachen, die man nach ihrem Sprung ins Wasser aus ihrer Reisekiste genommen hatte, einen roten Rock, ein blaugraues Unterhemd und eine violette Jacke mit halblangen Ärmeln. Die Rentierstiefel hatte sie noch an den Füßen. In jenem ersten Bruchteil einer Sekunde sah sie absolut nicht, wo sie war. Wer tagelang drinnen gehockt hat, im Dunkel und Halbdunkel, kommt mit dem plötzlichen Draußensein nicht zurecht, mit der Sonne, die auf einen Platz fällt und auf einen riesigen Schwarm knallweißer Möwen, die das Licht auf ihren Flügeln bis über die Häuser hinauf tragen.
Die Menschenmenge sah, wie sie die Augen zusammenkniff. Alle sahen es. Jeder Mensch mag einzigartig sein, es mag unmöglich sein, daß der eine genau dasselbe wahrnimmt wie der andere, doch es gibt Gelegenheiten, bei denen diese Einzigartigkeit ausgelöscht ist. Jeder sah, ohne Mitleid, aber auch ohne Schadenfreude, daß das Mädchen die Augen zukniff, als spüre sie eine Nadel in ihren Schläfen. Und daß sie sie dann wieder öffnete.
Das Rathaus besaß zu jener Zeit noch kein Glockenspiel. Von der Gemeindeverwaltung bestellt und angezahlt, war bereits eines in der Produktion, doch inmitten des schweren Geläuts der benachbarten Kirchenglocken fehlte in dem Moment noch dieses typische scharfe Rattern von Metall auf Metall, das das Kreischen einer Frau hätte übertönen können.
Der Himmel war inzwischen ungewöhnlich klar. In dem kurzen Moment, als ihre Augen das Licht wieder ertrugen, sah das Mädchen den Platz, die Menge in noch dunkler Winterkleidung und die emporgerichteten blassen Gesichter, die ihr in ihrer geballten Kraft klarmachten, daß mit ihr etwas geschehen würde, das mit niemandem sonst geschehen würde. Sie sah auch die buttergelbe West- und Südseite der Stadtwaage, die rotweißblaue Flagge am Mast eines Schiffes neben der Kleinen Schleuse am Ende des Damrak sowie die frisch geweißte Mauer und die roten Tür- und Fensterrahmen der Polizeikaserne gegenüber, ungefähr einhundertfünfzig Meter entfernt.
Wenn man gerade erst achtzehn ist, neigt man dazu, sich jeden Tag darüber zu freuen, daß man jung ist und keineswegs reif für den Tod. In dem Moment, als ihre Augen das Licht wieder ertrugen und sie die Stadt im vollen Sonnenschein unter dem knallblauen Himmel vor sich sah, trat sie zu. Dann blieb sie stocksteif stehen und fing an, höllisch zu kreischen.
8
Komm du auch
Die ersten Märztage waren trügerisch mild gewesen. Im Hafen von Aarhus, günstig gelegen auf einer kleinen Halbinsel an der Ostküste von Jütland, begann das Treibeis zu schmelzen. Der Verkehr im Kattegat kam wieder in Gang. Mittlerweile jedoch war ein Wind aus Nordnordwest mit sehr kalter Luft aus einem Druckgebiet über dem Westgrönlandstrom bereits im Anzug. Zu jener Zeit hätte nur der eine oder andere Kenner etwas vorhersehen können, etwas aus dem blaßweißen Widerschein am Himmel über dem offenen Meer in der Ferne ablesen können.
Am fünften März sprach Elsje Christiaens den Schiffer der Dorothe an, nachdem sie in der
Weitere Kostenlose Bücher