Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
Das Neue Labyrinth, ein wunderlicher Komplex aus Wasserspielen, Gärten mit kreischenden Pfauen, von Fabeltieren gezogenen Spieluhren, drei riesigen niederländischen Löwen mit erhobenen wasserspeienden Pranken, Raritätenpavillons mit Gipsabgüssen sämtlicher bis zu diesem Zeitpunkt in der Welt bekannter griechischer Statuen, mit Schenken, Sitzgruppen und als Hauptattraktion natürlich dem Labyrinth aus übermannshohen, undurchdringlich zusammengewachsenen Buchsbaumhecken.
Der Maler blickt zu dem Amüsierbetrieb hinüber. Voller als sonst unter der Woche, konstatiert er verwundert und bedenkt nicht, daß eine Menschenmenge, die gerade einer Hinrichtung beigewohnt hat, danach etwas anderes sehen will. Das tote Mädchen hatte man ziemlich schnell vomPfahl abgenommen und vom Schafott entfernt. Während man sie den Damrak hinunterruderte, auf der Bahre neben ihr die Mordwaffe, war das Publikum noch einmal zusammengeströmt, um zu schauen, einige wurden still. Die Schaluppe bewegte sich dank energischer Ruderschläge in Richtung IJ und verschwand außer Sicht. Nun war es genug gewesen.
Also bleiben. Vor einigen Minuten ist sein Sohn nach Hause gekommen, das hat er gehört, der Junge wird ihm wohl gleich berichten, ob es mit diesen Ätzplatten etwas geworden ist, das hat keine Eile. Als Bewohner dieses Viertels kennt er den Lustort gegenüber natürlich gut, er geht nach wie vor manchmal hin, trinkt ein Glas Wein, zeichnet etwas. Aber auch als er noch in der schicken Breestraat wohnte, als Witwer seiner ersten Frau, hat es Zeiten gegeben, in denen er es vor allem an langen, von unmöglichen Verheißungen erfüllten Sommerabenden daheim nicht mehr aushielt. In den schummrigen Labyrinthgängen, durch die zwischen den immer so ernsten Liebespaaren auch die Nachtvögel aus dem Hafengebiet schwärmten, fröhlich, in stramm geschnürten Leibchen, fiel ein Mann in feiner Jacke genausowenig oder genausoviel auf wie ein Schauermann. An die Dezibel der fahrbaren Orgel, suggestiv bemalt mit einer lebensechten Judith, die das lebensecht blutende Haupt des Holofernes an den Haaren von der Genickwunde hebt, ist er inzwischen gewöhnt. Damals, erinnert er sich, hat er sich einmal fürchterlich erschrocken, als unversehens hinter einer Hecke die Melodie des Tages losplärrte. Dort nahmen sie einander .
»Was ist denn jetzt ?!«
Das Mädchen – sechs Stuiver – hatte gelacht und geantwortet,daß er sich nicht darum kümmern solle, und hatte ihre lauwarme Hand an seine Wange gelegt.
Aus dem Fenster schauen. Sich weiter am Ort des Geschehens aufhalten. Die Gedanken an die Pärchen im Labyrinth hindern ihn keineswegs daran, sich voll auf das rote Kleid im Bild hinter sich zu konzentrieren, genauso wie das rote Kleid ihn nicht daran hindert, im Geiste ein Gespräch zu führen. So ein typisches Gespräch von Künstlern unter sich. Hochfliegende Ideen, Wissenswertes und barer Unsinn, alles kriecht aus grauer Vorzeit hervor, um sich aufs Geratewohl miteinander zu vermischen.
Der Maler denkt an das stille Paar auf der Leinwand und gleichzeitig an einen der Meister, mit denen er sein Leben lang Zwiesprache gehalten hat. Er braucht den Blick nicht von der Straße zu lösen, um den Kollegen aus Venedig in seinem graublauen Rock mit den gesteppten Ärmeln vor sich zu sehen. Dunkles halblanges Haar, auf dem Scheitel ein Käppchen, gepflegter Bart und Schnurrbart: Tizian. Der ihn mit seinem arrogant-freundlichen Blick aus dem sechzehnten Jahrhundert heraus ansieht.
»Ich habe mal einen Folioband mit Ihrem vollständigen Werk besessen, Zeichnungen, Reproduktionen, alles sehr, sehr schön«, sagt er leise und stellt sich die späten, überaus beweglichen Werke des Meisters vor. Was würde er wohl zu dem zurückhaltenden Liebespaar hier auf der Staffelei sagen? Die beiden sehen einander nicht einmal an.
Es ist genau richtig, würde er bestimmt sagen. Es ist … ähm, eigenartig schön.
Der Maler nickt nachdrücklich. »Ja. Und viel natürlicher. Diese ganze Bewegung, diese Hektik, diese Geschwindigkeit, was will das anderes, als aus dem Rahmen ausbrechen?«
Vergnüglich weiterspinnend bedenkt er, daß sie, die Maler, schließlich nicht daran arbeiten, der Zeitdauer eine Form aufzuerlegen, wie die Dichter es tun, sondern gerade umgekehrt die Form mit einer Zeitdauer versehen, dem Blick.
»Was, wenn es nur halbwegs klappt, eine Ewigkeit ist«, hört er jetzt eine eindeutig gutgelaunte Stimme sagen. »Ich würde meinen, euch Kalvinisten ist so
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