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Maler und Mädchen - Maler und Mädchen

Titel: Maler und Mädchen - Maler und Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
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Weise sexuell bedrängtvon einem geilen Gott –, und qualifizierst sie für die Ewigkeit …
    Der Maler hört seinen Gast brummen.
    »Was ist?« fragt er besorgt. »Geht es Ihnen nicht gut?«
    Der andere hebt erschrocken die Arme.
    »Nein, nein. Es ist nichts.«
    Und wendet sich ab.
    Der Maler sieht nicht, wie sein toter Kollege mit Augen, schwarz vor Entsetzen, in die Ewigkeit blickt.
     
    Es ist das Jahr 1985. Die Stadt an der Newa heißt also noch Leningrad. Im sowjetrussischen Museum Eremitage hängt im zweiten Stockwerk der Akt, der als der schönste der Welt gilt. Der Mann, der eines Nachmittags das Museum besucht, kennt ihn. Er ist erst gestern hier gewesen, weiß aber heute nicht mehr genau, wo er das Bild finden kann, in diesem Labyrinth. Die junge Frau liegt, vollkommen real, auf dem Bett. Nicht nackt, sondern entblößt. Nicht in sich gekehrt, sondern bereitwillig. Bekleidet mit ihren Armbändern und der Lichtbahn, die ungehörig von Gott weiß woher über ihren Körper fällt, sagt sie ja, aber ja, komm nur zu mir!, trotz der Gebärde der einen Hand, die schreckhaft wirkt, aber lediglich dazu dient, ihre Augen gegen das überwältigende Licht abzuschirmen. Der Mann hat in der zurückliegenden Nacht nicht schlafen können. Es ist Juni. Das Tageslicht scheint wie in einer Gefängniszelle vierundzwanzig Stunden am Stück. In der schwülen weißen Nacht hat er an nichts anderes gedacht als an den Abstand zwischen ihm und ihr. Seine Wut schwillt an zu einem Entschluß, einer Tat, die bereits ihren Anfang genommen hat.
    »Wo befindet sich das schönste Kunstwerk der gesamtenSammlung?« fragt er den erstbesten Wärter, dem er an diesem Tag begegnet. Die Sammlung besteht aus 2706814 Kunstwerken, Tafelgeschirre und Silber nicht mitgerechnet.
    Der Wärter antwortet ohne das leiseste Zögern.
    »Treppe rauf. Gang bis zum Ende runter. Nächsten Gang runter, auch bis zum Ende, und dann noch einen, wieder bis zum Ende. Letzter Saal. Erstes Gemälde, hinter der Zwischenwand, links, ganz hinten in der Ecke.«
    Der Mann geht die Treppe hinauf, in der einen Jackentasche ein Messer, in der anderen ein Fläschchen Vitriol. Wie um seiner – bereits begonnenen – Tat noch eben etwas in den Weg zu stellen, fragt er am Ende des zweiten Gangs noch einmal nach dem schönsten Kunstwerk. Das magere, krumme Weiblein blickt ungehalten aus seinen Gedanken auf (Blockade überlebt) und bestätigt das Urteil. Auch sie sagt: Gang runter, und so weiter und so fort.
    Als er vor dem Gemälde steht, braucht er sie nur einen Moment lang anzusehen, so warm und weich, so verfügbar, so lichtübergossen, und schon stößt er zu. Der erste Stich trifft das kompositorische Herz des Bildes: das Dreieck unter dem kräftigen Bauch, in das er eine mehr als zwölf Zentimeter lange Wunde reißt. Noch einmal sticht er zu. Als die Wärterin kommt, hat der Mann das Fläschchen schon fast ausgeleert, die Säure frißt sich in tropfenden Linien durch das Gesicht, die Brüste, die Arme und Beine des Mädchens über das Bettzeug bis zum Fußboden.
     
    Mit einemmal schwermütig. Warum? Gerührt denkt der Maler, der Lichtfanatiker, noch eben an das Mädchen, das vom tausendfachen Licht des verliebten Gottes und von nichts anderem befruchtet wird. Er kann es sich vorstellen.Ja, sehr gut möglich. Dann reibt er sich die Augen. Die Hand voller Farbflecken, muskulös wie die eines Organisten. Die angenehme Atmosphäre eines Gedankenaustauschs, der noch ein wenig nachwirkt, kehrt für einen kurzen Moment zurück.
    Warum sollte man das Bild, das man vor Augen hat, nicht unverzüglich mit der Farbe in Angriff nehmen? Warum die erste Arbeitslust mit Zeichnen verderben? Das Gespräch der beiden Meister hatte sich in einem bestimmten Moment der Motorik des Berufs zugewandt. Ach! Ihre Lockerheit, Herr Kollege, hatte der Maler gesagt, der selbst an einem Bild arbeitet, das gar nicht locker ist, sondern vielmehr schorfig, dickflüssig, voller Grate und frech in die Farbe aufgenommener eingetrockneter Krusten von einem früheren Arbeitsgang: Pinseln, Hinklatschen, Putzen. Merkwürdig übrigens, hatten sie beide gefunden, wie eine derart locker fabrizierte Wirklichkeit, aus einiger Distanz betrachtet, sensationell echt wirkt …
    Und aus der Nähe?
    Achselzucken, Nähe ist privat, intim wie der Nachthimmel, der den größten Teil seiner Sonnen ebenfalls verborgen hält. Der Maler, verstört, als hätte er ein altes Lieblingsbuch noch einmal von vorn bis hinten

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