Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
durchgeblättert, sieht sich im Raum um. Helles Mittagslicht. Und auf dem Tisch der Krug und ein paar kleine Gläser, die Gäste erwarten. Kann alles sein, denkt er. Trotzdem gibt es nichts, absolut nichts Intimeres als die Zeichnung. Eine größere Nähe gibt es nicht.
Einmal war die arme Ricky müde gewesen und hatte nicht darauf geachtet, daß er sie vom Zwischenzimmer aus betrachtete. An dem Nachmittag, erinnert er sich, gab es sogut wie keine Distanz zwischen seiner Feder auf dem Papier und ihrem etwas traurig in eine Jacke gewickelten Körper, Haube über dem Kopf. Der auf der Fensterbank ruhende Arm. Schon seit Jahren ein unwiderstehliches Signal für seinen Blick. Kurz darauf also seine kratzende Feder, dann ein feiner Pinsel, und die ganze Zeit ihr schwermütiges, fast grüblerisches Gesicht, das Kinn in die Hand gestützt. Zusammengesunken saß sein Mädchen, gerade Mutter geworden, da und dachte an etwas Ernstes. Gleichzeitig also eine kleine Zeichnung. Maß nicht einmal vier auf drei Daumen. Und kurz darauf eine zweite, kaum größer, auf der sie an den Fensterrahmen gelehnt eingeschlafen ist, vollkommen sorglos jetzt, das Nachmittagslicht auf ihrem gesunden jungen Gesicht.
Gerade als er sich fragt, wie spät es ist, beginnt gegenüber das Glockenspiel. Halb. Nach der kleinen Weise der Glockenschlag. Er hört die Schritte seines Sohnes im Zimmer unten. Er hat die Schuhe nicht ausgezogen. Warum kommt er nicht schnell mal herauf?
19
Das cremeweiße Tribunal
Ein Vater und ein Sohn.
Der Sohn hatte sich vom Fenster umgedreht, als der Vater die Küche betrat. Ein verhältnismäßig heller Raum zu dieser Tagesstunde. Sonne auf der kupfernen Wasserpumpe zwischen dem Spülstein und dem Geschirrschrank. Die beiden hatten sich angesehen, und jeder hatte sofort gewußt, was den anderen beschäftigte.
»Du hast es also gesehen«, sagte der Maler, der den unglückseligen Blick seines Sohnes von einer früheren Gelegenheit her kannte.
Der junge Mann strich sich das Haar aus der Stirn.
»Ja«, sagte er. »Ich hab’ es gesehen.«
Er begann, mit den Fingern der einen Hand an denen der anderen zu ziehen.
»Ich hab’ sie sogar noch im Gerichtssaal gesehen, von hinten. Sie war klein, ein bißchen mollig. Sie stand sehr gerade.«
»Dann mußt du früh da gewesen sein.«
Der Sohn überhörte die Bemerkung. Vor sich hin starrend, sagte er: »Ich habe es von A bis Z gesehen.«
Einen Augenblick später saßen sie am Tisch, seitlich, die Stühle etwas weggerückt. Der Maler war damit beschäftigt, eine ausgegangene Pfeife neu zu entzünden. Die Flamme beschien sein Gesicht. Sein Vormittag, einschließlich desSpaziergangs in die Warmoesstraat und mit einem Umweg wieder nach Hause, war nichts als eine Fortsetzung seines Sinnierens und Grübelns an vielen anderen Vormittagen gewesen. Der Sohn, der das wußte, der genau wußte, in welcher Stimmung sein Vater sich befand, ließ die Fingerknöchel knacken. Er erzählte, wie er, inmitten eines Grüppchens entschlossener Sloterdijker vorwärts geschoben, auf dem Dam gelandet war.
»Ich wußte, wohin sie gingen, und ging mit«, sagte er.
Der Maler blickte seinen Sohn prüfend an.
»Ich bin einfach mitgegangen.«
Liebevolles Nicken.
Die Gruppe hatte sich von der Südwestseite des Rathauses frech durch die Menge auf der Vorderseite gedrängt. Es war ihr gelungen, sich durch das Publikum auf der Galerie zu zwängen und die Stelle zu erreichen, von der aus man durch die bronzenen Gitterfenster in den Gerichtssaal hineinschauen konnte. Daß die Fenster des Tribunals weit offenstanden, hatte nichts mit dem schönen Wetter zu tun, sondern einzig und allein mit der Stadt Amsterdam, in der die Justiz vor keinem Menschen etwas zu verbergen hat. Die Decke des prächtigen rechteckigen Raums, der vollständig aus weißem Marmor der teuersten Sorte bestand, befand sich auf der schwindelnden Höhe zweier kompletter Rathausgeschosse. Ein intelligent entworfenes Gebäude. So konnten im Saal unten Schultheiß und Schöffen ein unabhängiges Urteil fällen, während eine Etage höher die vier Bürgermeister der Stadt die Innenfenster ihrer Amtsstuben nur zu öffnen brauchten, um nachdrücklich, wie aus einer Burg heraus, zugegen zu sein. Die wirkliche Macht in der Stadt.
Wir sind zur rechten Zeit da, hatten die zufriedenen Sloterdijker festgestellt.
Der Maler merkte, daß sein Sohn, dem die Leibesstrafen, die auf dem Dam regelmäßig vollzogen wurden, weiß Gott nicht unbekannt waren,
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