Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
überhaupt nicht beachtet hatte. Als ob die Augen eines solchen Kindes am Tag seines Todes auf so etwas eingestellt wären! Nach einer durchwachten Nacht war der Morgen ihr lang vorgekommen, und sie hatte recht, der Morgen war lang gewesen. Aus irgendeinem Grund hatte man in Amsterdam nie einen eigenen Henker eingestellt. Die Stadt war daran gewöhnt, sich für ihre Hinrichtungen an das benachbarte Haarlem zu wenden. Dort hatte es in den vergangenen Tagen ziemlich viel zu tun gegeben. Normalerweise wäre Elsje Christiaens um halb neun zu ihrer Hinrichtung abgeholt worden. Weil Chris Jansz, der Scharfrichter, entgegen seiner Gewohnheit aber erst am Tag selbst angereist war und sein Wagen unterwegs auch noch eine Panne hatte, hatte das Mädchen bis kurz vor halb elf in der Folterkammer warten müssen. Wie das Reglement es verlangte, hatte man sie für ihre letzte Nacht in den Marterraum gebracht. Um ihr ein wenig Ablenkung zu bieten, hatte der Sohn des Gefängniswärters ihr vorgeschlagen, noch einmal ein paar Runden zu bickeln.
»Darf ich auch wissen, wie du heißt?« hatte Elsje ihn gestern, zu Beginn jener letzten Nacht, gefragt.
»Simon.«
Der rothaarige Lockenkopf hatte mit ihr geeselt, mit Würfeln, und gebickelt, bis der Pfarrer gekommen war. Als sie an dem heutigen endlosen Morgen den Schlüssel wieder im Schloß gehört und die Tür sich wieder hatte öffnen sehen, hatte es einen Moment gedauert, bis ihr klar wurde, daß es noch nicht, noch immer nicht soweit war.
»Gut«, hatte sie zu seinem Vorschlag gesagt.
Wie am Abend zuvor hatten die beiden vorgebeugt zwischen den Folterwerkzeugen gespielt, sie auf dem Strohsackauf dem gemauerten Podest, das ihr als Schlafplatz gedient hatte, er auf einem kleinen Hocker. Durch das vergitterte Fenster an der Decke war Licht vom nördlichen Innenhof in den Raum geströmt. Bickeln geht am besten mit den Knöchelchen eines Entenkükens. Man nimmt sie in die Hand, wirft sie hoch, angelt eines heraus, schaut, wie sie fallen, und rafft sie mit einer raschen Handbewegung wieder vom Boden.
»Du bist dran.«
»Ich?«
»Ja. Du darfst noch mal werfen.«
»Gut.«
»Du.«
»Was?«
»Du wieder.«
Bis kurz vor halb elf der Gefängniswärter hereingekommen und Simon, plötzlich im Dienst, mit betretener Miene aufgestanden war.
Als Elsje einige Minuten später den Gerichtssaal betrat, war sie eigentlich schon eine Patientin, das heißt eine zum Tode Verurteilte, die ihr Urteil kennt und angehört hat. Dennoch hätte die Stadt Amsterdam es für unverzeihlich leichtfertig gehalten, nun unverzüglich, ohne Umschweife, zur naheliegenden Tat zu schreiten. Die Kirchenglocken der Umgebung schwiegen jetzt. Die Pfarrer wußten aus Erfahrung, daß nun zunächst in der Öffentlichkeit Recht gesprochen werden mußte. Als sie in den Saal trat, hörte Elsje Christiaens durch die offenen Fenster rechts von ihr die merkwürdige Stille einer Menschenmenge, die den Atem anhält. An den Oberarmen fühlte sie den Griff des Gefängniswärters und seines Sohnes, die sie mit einem Bogen vor denSchultheiß führten und dort losließen. Sie sah zehn Männer, in den schwarzen Blutrock gekleidet, die sie vor einer marmorweißen Wand ohne die geringste Regung ansahen.
Plötzlich eine Beschwörung oder etwas Ähnliches, in erschreckender Lautstärke.
Der Schultheiß: »Steht die Sonne hoch genug, um das Urteil zu verkünden?!«
Wobei Elsje genau wie alle anderen das Gefühl hatte, das müsse so sein, exakt auf diese brüllende Manier. Auch das Antwortgebrüll danach erschien logisch. Es kam von den neun Schöffen zu beiden Seiten des Schultheißen und, leicht verzögert, schleppender, vornehmer, von dreien der Bürgermeister (der vierte lag auf dem Sterbebett) in den Fenstern über ihrem Kopf.
»Ja!!«
Daraufhin zog der Schultheiß ein Blatt Papier aus seiner Kleidung. Im Ton einer dringenden Botschaft, die man, ja, wohin, gen Himmel schickt, verlas er in seiner Funktion eines Anklägers den gesamten Hergang des Verbrechens, das dem Mädchen zur Last gelegt wurde. Elsje Christiaens hörte sich die Formulierungen an, Hochholländisch, für sie nicht recht zu verstehen, was auch nicht nötig war. Sie stand aufrecht, die Hände am Rock, runde Schultern. Daß die zehn sie anstarrenden Männer rote Augenlider und leicht violette Lippen hatten, lag nur am Widerschein des über ihre Brust gebreiteten feuerroten Blutschals.
Ein ausnehmend schönes Bild.
Und keiner der Amtsträger hatte auch nur den
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