Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
geringsten Grund, sich über Elsje zu beklagen, vorerst jedenfalls. Das Kind hatte keine Reue gezeigt, schade, wirkte aber brav an dem glanzvollen und vor allem auch lehrreichen Sieg derstädtischen Obrigkeit über die Kriminelle mit. Deshalb, wegen dieses guten Verhaltens, stand ihr in diesem Moment auch noch eine Möglichkeit offen. Nicht die der Rettung ihres irdischen Lebens, das nicht. Auch an der Art und Weise, wie ihre Strafe vollzogen werden würde, konnte nicht mehr gerüttelt werden. Aber was danach geschah …
»Wie sie da stand«, sagte der Sohn des Malers zu seinem Vater, »hätte man meinen können, es ginge sie alles nichts an.«
Was im Grunde auch zutraf. Die Hauptrolle bei der bis ins Kleinste geregelten Zeremonie war der Magistratur vorbehalten, dem Gericht, das an diesem Tag ein Menschenleben nehmen würde und dafür der Tröstung eines Phantasietraums bedurfte. Während Schultheiß und Schöffen sich von ihren Plätzen erhoben, nach oben gingen, um sich, rein der Form halber, mit den Bürgermeistern zu beraten, und in dem Prozessionsschritt, mit dem sie gegangen waren, auch wieder in den Gerichtssaal zurückkehrten, hatte die Patientin gewartet. Bescheiden in ihrer Statistenrolle, wie es sich geziemt. Auch als der Marsch der Herren nach oben noch einmal erfolgen mußte, diesmal nachdem der Schultheiß den ihr bereits bekannten Strafantrag donnernd vorgetragen hatte, blieb sie ganz allein auf ihrem Posten.
Ob sie in diesen paar Minuten vielleicht dem kleinen Orchester aus Flöten und Trommeln lauschte, das draußen, in der Sonne vor der Stadtwaage, zu spielen begann? Ein Intermezzo, wer hatte das bestellt? Die Sloterdijker, erfuhr der Maler von seinem Sohn, hatten die populäre Kanzone sogleich erkannt, und einer von ihnen hatte die Worte leise mitgesungen. Wie still es jetzt auf der Straße ist, jeder, der nach Haus gehn mußt, ist nach Haus gegangen … Für einenkurzen Moment hatte sich eine Atmosphäre des Verständnisses, eines anderen Verständnisses, auf den Platz gesenkt. Die Worte, diesmal ungesungen, den meisten jedoch wohlbekannt, wurden als durch und durch bedeutsam empfunden, älter und reifer als das, was sie selbst im Alltag sagten.
Im Gerichtssaal faßte jetzt einer der Schöffen das Mädchen am Ellbogen. Durch eine Vierteldrehung plazierte er das Kind des Todes, wie sie offiziell, bis zum Ende ihres Lebens, von jedermann genannt werden durfte, genau vor den Sessel des Stadtsekretärs.
»Dieser kleine Dickwanst«, murmelte der Maler, während er seinen Sohn weiter gebannt ansah. »Kein übler Bursche, aber schwerfällig, Augen wie von einem Hecht.«
Das Mädchen muß diesen Fischblick irgendwie als unangenehm empfunden haben. Der Stadtsekretär besetzte ganz allein die Nordwand des Tribunals. Die cremeweißen Reliefs rings um seinen Sessel sprangen im Licht des Maitags hervor, als ob sie lebendig wären. Der Stadtsekretär griff nach seinem Papier. Der Form halber richtete er seine Glubschaugen für einen Moment auf das Kind des Todes, das sofort ein paar Meter höher hinauf schaute, was er nicht merkte, da auch sein Blick in die Höhe schwebte. Nach Luft schnappen, ein bißchen nervös. Elsje starrte derweil auf eine besonders schön gemeißelte Allegorie des Todes.
Die Stimme des Stadtsekretärs war schon von Natur keine Ausruferstimme.
»Elsje Christiaens …«
Noch näselnd, aber sie verstand es natürlich. Danach kam, wahrscheinlich durch die Aufregung zu Beginn, eine etwas forcierte Deklamation in Gang.
Während Elsje ihr kleines rundes Gesicht völlig ausdruckslosnach oben gerichtet hielt – zu drei weinenden nackten Kindern rings um einen grinsenden Schädel –, trug der Stadtsekretär für das Volk ihr Todesurteil vor. Das klang heftig. Es hatte, weil seine Stimme sank und stieg und er jedesmal neu nach Luft schnappen mußte, mehr Ähnlichkeit mit einer Serie von Verwünschungen als mit einem fachkundig abgefaßten juristischen Text. Der Stadtsekretär sprang oft ein paar Zeilen zurück, unklar, warum er das tat. Er sprach viele Minuten lang. Nur diejenigen, die es bis in die Nähe der Fenster des Tribunals geschafft hatten, bekamen offiziell zu hören, auf welche Weise die junge Mörderin ihr Ende finden würde. Sie haben auch direkt hören können, daß ihr Hab und Gut von der Stadt eingezogen werden würde. Zum Schluß konnten sie die einzige Bestimmung aufschnappen, die eventuell noch hätte widerrufen werden können.
Daß ihr Leichnam der Erde nicht
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