Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
gegönnt würde.
Von der Straße kam schon seit einer Weile kein Lärm mehr, was ungewöhnlich war.
»Den Wievielten haben wir heute eigentlich?« fragte der Maler.
»Den Dritten«, sagte sein Sohn, zum Rhythmus einer lautlosen kleinen Musik unmerklich nickend.
Der Maler war überrascht, daß er bis zu diesem Tag nichts von dem doch wirklich spektakulären Verbrechen gehört hatte. Er ging noch immer oft genug ins Wirtshaus, unterhielt sich mit den Nachbarn und las mehrere Zeitungen, vor allem natürlich die mit den Börsennachrichten. Auch warf er gelegentlich einen Blick in den Courante uyt Verscheyde Quartieren .
»Ich frage mich …« hob er an.
Er legte die Handflächen auf den Tisch, als wolle er sich erheben, um wieder an die Arbeit zu gehen.
»So ein Mädchen, und dann so eine Aggressivität, wie ist das möglich?« sagte er erstaunt, mit einem forschenden Blick auf seinen Sohn.
20
Das Beil
Daß die Atmosphäre im Haus etwas eigenartig war, hatte sie nicht sofort gemerkt. Verwunderlich war das nicht. Sie war auf dem Land aufgewachsen, inmitten von Wiesen und Äckern außerhalb des Stadtwalls von Aarhus, außerdem war sie noch jung. Von Hurerei hatte sie zwar schon gehört, aber noch nie von Prostitution. Hurerei war der Fall bei ihren Nachbarn, Viehhändlern, die schon an die fünfzehn Jahre auf ihrem Bauernhof zusammenlebten, wie Mann und Frau laut Sarah-Dina, aber unverheiratet, warum, hatte die Stiefschwester nicht zu sagen gewußt.
Am ersten Morgen war sie spät aufgewacht. Das Laken roch so sauber und lag so hart an ihrer Nase, als sei es gerade erst von einer Leine im Wind hereingeholt worden. Das Licht der Stadt fiel in den mit Latten abgetrennten Teil des Dachbodens herein, das Klappfenster auf der Straßenseite stand ein kleines Stück auf. Sie hatte die Augen wieder geschlossen. Am Tag zuvor war sie drei Treppen hinaufgestiegen, hinter der Schlaffrau her, ihre kleine Reisekiste auf der Schulter. Sie erinnerte sich genau daran. Aber weil das Holz der Fußböden und des Dachstuhls so ruhig knarrte und das Laken so angenehm roch, nach Seife, aber auch nach Salz, konnte sie sich sehr gut vorstellen, noch immer an Bord des Schiffes zu sein.
So eine Ankunft geht zu schnell. Tausend Szenen stürmen auf einen ein. Man kann sie sehen, mehr oder weniger, aber unmöglich allesamt zu sich durchdringen lassen, und das macht auch überhaupt nichts aus. Man kann sie sich morgens, wenn man mit unter dem Kopf gefalteten Händen im Bett liegt, wieder vor Augen rufen.
Die Schmack von Kapitän Jan de Veth hatte von der Zuiderzee an den Hauptwasserweg zu den Häfen genommen. Wer von Norden auf das IJ zusegelt, kommt an einem Teil Noordhollands vorbei, der den Namen Land nicht verdient. Wer Volewijck sagt, sagt Schlamm, Moor, Schilf und verlegt sich danach lieber aufs Schweigen oder denkt an die schönen Schlittschuhfahrten, die man im Winter entlang dieser Halbinsel im IJ machen kann. Die Richtstätte liegt an ihrer Südwestspitze, direkt gegenüber der Stadt Amsterdam. Unheimlich? Eine Art höllischer Kinderspielplatz mit seiner hohen, in klassischem Stil hochgemauerten Rotunde, wo an Galgen immer zwei, drei Kadaver hängen, mit seinen Pfählen, seinen auf Stangen befestigten Rädern, alle besetzt, manchmal mit bereits mehrere Jahre alten Festteilnehmern? Die Schmack ist zuerst am schwarzbraun geteerten Zollhaus vorbeigefahren, dann an dem grünen Ausflugslokal in der Biegung und wäre geradewegs auf die makabre Südwestspitze zugesteuert, wenn sie nicht gerade über Stag gegangen wäre. Jetzt lag die moralische Begrüßung der gastlichen Stadt an Steuerbord, noch immer deutlich erkennbar.
Elsje Christiaens hat nichts davon gesehen. Sie stand auf dem Vordeck. Neben ihr ein Junge mit dem Aussehen eines von Hunden gezausten kleinen Katers.
»Also so was«, sagte er.
Nur wer ihn gut kannte, und niemand hier tat das, hättegewußt, daß der Junge hiermit seiner tiefsten Ehrfurcht Ausdruck verlieh.
»Ja«, antwortete Elsje, die immerhin ahnte, was er meinte. Er meinte die Kirchtürme, Mühlen und Häuser in der Ferne, die alle mit leiser, zärtlicher, aber höchst autoritärer Stimme sagten: Komm du auch!
Sie bekam einen Schlag auf die Schulter.
»Wo die wohl hinfahren?« schrie der Junge und zeigte in eine bestimmte Richtung.
Erst da richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Vordergrund der Stadt, die Wasserkosmopole aus abgetakelten Schiffen in Reih und Glied, Anlegestegen, Bötchen, Kränen, Hallen
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