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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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überfällt, nicht das geringste. Vilmains vier
     Bewaffnete lassen mich, wie vereinbart, auf einer Stufe der Chortreppe Platz nehmen. Auch sie setzen sich, je zwei auf eine
     Seite, und flankieren mich, das Gewehr aufrecht zwischen den Beinen, mit strenger Miene. Hinter mir der moderne, von jedem
     Zierat entblößte Altar und, weiter hinten und höher, das Kirchenfenster der Lormiaux. Es müßte jetzt zu leuchten anfangen,
     denn es ist vier Uhr vorüber, die Sonne hat sich genau in dem Moment verschleiert, in dem ich eingetreten bin. Ich lehne mich
     mit dem Kreuz an den Tritt der höheren Stufe, verschränke die Arme und versuche, im Halbdunkel die Gesichter zu unterscheiden.
     Im Augenblick sehe ich nur Augen glänzen und hier und da den Tupfer eines weißen Hemdes. Erst nach und nach gelingt es mir,
     die Bewohner La Roques zu erkennen. Manche von ihnen meiden meinen Blick, wie ich mit Kummer feststelle. Der alte Pougès gehört
     dazu. Doch zu meiner Linken gewahre ich im kargen, aus einem schmalen Seitenfenster fallenden Licht die Bastion meiner Freunde.
     Marcel Falvine, Judith Médard, die beiden Witwen Agnès Pimont und Marie Lanouaille und zwei Landwirte, an deren Namen ich
     mich nicht recht erinnere. In der ersten Reihe entdecke ich Gazel, der seine weichen Hände auf dem Schoß kreuzt und dessen
     schmale Stirn von jenen schönen Locken gekrönt ist, die mich an die meiner Schwestern erinnern.
    Als ich durch die kleine Seitentür neben dem Chor eintrat, konnte ich Fulbert nicht erblicken. Vermutlich ging er im Mittelgang
     auf und ab und war gerade bei dem großen Spitzbogentor im Hintergrund angelangt. Auch als ich mich setze, sehe ich ihn noch
     nicht, denn der Vorraum des Schiffes, wo die Seitenfenster fehlen, ist am dunkelsten. Doch in der Stille, die sich bei meinem
     Eintritt ausbreitet, höre ich, lange bevor ich ihn sehe, seine Schritte auf den großen Steinplatten hallen. Die Schritte |502| nähern sich, und Fulbert tritt aus dem Schatten allmählich in den Halbschatten hervor. Weder an seinem anthrazitfarbenen Anzug
     noch an seinem grauen Hemd oder an seiner schwarzen Krawatte bleibt viel Licht hängen. Und was ich zuerst erkenne, ist seine
     blasse Stirn, sind die grauen Schläfen unter dem Helm aus schwarzem Haar, die Höhlungen seiner Augen und seine hohlen Wangen.
     Nach einer Sekunde sehe ich auch das silberne Kreuz auf seiner Brust schwingen, bewegt von den zweifellos höchst menschlichen
     Leidenschaften, die in ihr wohnen.
    Während er ohne Hast, mit gemessenen, festen Schritten auf mich zugeht, seine Absätze gebieterisch auf den Fliesen widerhallen
     läßt und den Kopf gespannt nach vorn reckt, sieht er aus, als wollte er mich lebendigen Leibes verschlingen. Gleichwohl bleibt
     er, mit den Händen auf dem Rücken und leicht auf den Beinen wippend, etwa drei Schritt vor mir stehen und blickt mich kopfschüttelnd
     und schweigend von oben bis unten an, als gedächte er mich in seinen Bann zu ziehen, bevor er zuschlägt. Selbst auf diesen
     Abstand kann ich von seiner Gestalt, deren klerikales Schwarz mit der Dunkelheit in der Kapelle verschmilzt, kaum etwas erkennen.
     Seinen Kopf aber, der über mir in der Luft zu schweben scheint, sehe ich sehr gut, und ich bin überrascht von dem Blick aus
     seinen schönen, schielenden Augen. Denn sie drücken mir gegenüber nichts als Güte, Mitleid und Trauer aus, genau wie übrigens
     auch sein Kopfschütteln, das den Blick begleitet und den Eindruck erweckt, daß er im Begriffe sei, in eine bedrängte Lage
     zu geraten.
    Ich bin enttäuscht und sogar beunruhigt. Nicht, daß ich auch nur für einen Augenblick an seine Aufrichtigkeit glaubte, doch
     wenn er bis zum Schluß auf diese Karte der christlichen Liebe setzt, ist meine Komödie nicht zu verteidigen, bricht mein Plan
     zusammen, und es wird für mich schwierig werden, einen Mann zu verurteilen, der sich geweigert hat, mich zu richten. Denn
     auf eine Weigerung, mich zu richten, scheint seine mitleidvolle Haltung wohl hinzudeuten.
    Das Schweigen währt lange Sekunden. Die Versammelten schauen abwechselnd auf Fulbert und auf mich, und sie wundern sich, daß
     Fulbert kein Wort sagt. Ich aber beginne, mich wieder zu beruhigen. Ich glaube, dieses vorbereitende Schweigen ist ein Predigertrick,
     um Aufmerksamkeit zu erheischen, und außerdem, ich möchte schwören, eine sadistische Hinterlist, |503| die beim Angeklagten falsche Hoffnungen aufkommen lassen soll. Indem ich Fulberts auf mich

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