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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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gerichteten scheelen Blick erforsche,
     komme ich plötzlich darauf, daß sein Augenfehler nicht allein von der Abweichung der Pupillen, sondern auch davon herrührt,
     daß das rechte Auge einen ganz anderen Ausdruck hat als das linke. Dieses ist – im Einklang mit dem väterlichen Kopfschütteln
     und dem wehmütigen Vorschieben der Lippen – von Erbarmen erfüllt. Das rechte Auge hingegen funkelt vor Bosheit und widerruft
     die vom linken Auge ausgesandten Botschaften: Das wird einem klar, sofern man sich nur auf jenes rechte konzentriert und von
     der übrigen Physiognomie absieht.
    Ich bin sehr froh über meine Entdeckung, denn in meinen Augen komplettiert sie die janushafte Seite von Fulberts Persönlichkeit:
     die groben Hände mit den spatelförmigen Fingern, die den Intellektuellenkopf Lügen strafen, und das ausgemergelte Gesicht,
     das der gut gepolsterte Oberkörper dementiert. Im Grunde genommen sind alle seine Lügen und Dementis bereits in seinem Körper
     und in seinen Augen vorgeprägt, bevor er überhaupt den Mund aufmacht.
    Nun endlich spricht er. Er tut es mit einer Stimme, die leise und tief wie ein Cello ist. Das hat Musik, hat Salbung. Und
     der Inhalt übertrifft von Anfang an meine Erwartungen. Fulbert habe nicht genügend Worte, sagt er, um die Situation, in der
     er mich sehe, zu beklagen. Eine Situation, die sehr schmerzensreiche Empfindungen (geschworen hätt ich’s!) in ihm auslöse
     – zumal er bekanntermaßen eine »innige« Freundschaft für mich gehegt habe, eine Freundschaft, die ich verraten hätte und die
     er sich zu seinem großen Kummer in der Folge von Verfehlungen versagen müßte, zu denen mein Hochmut mich verleitet habe. Diese
     Verfehlungen erhielten heute eine Strafe, in der er den Finger Gottes sehe …
    Diese widerliche Präambel kürze ich ab. Ihr folgt eine Anklagerede, die sich mehr und mehr von der anfänglichen Milde entfernt.
     Nun aber, von der ersten Anklage an, die er mir entgegenschleudert – sie nimmt Bezug auf die »Entführung« Caties, wie er es
     nennt –, erhebt sich ein Murren im Saal. Und dieses Murren nimmt immer mehr zu, ungeachtet der immer drohender werdenden Blicke
     Fulberts und trotz des immer härteren und schneidenderen Tones, dessen er sich bedient, um seine Beschwerden aufzuzählen.
    |504| Seine Beschwerden sind von dreierlei Art: In Verletzung eines Dekrets des Rates der Pfarrgemeinde habe ich ein junges Mädchen
     aus La Roque gekidnappt, mißbraucht und dann, nach einer Scheinhochzeit, einem meiner Männer überlassen. Die geheiligte Religion
     habe ich entweiht, indem ich mich durch meine Domestiken zum Priester wählen ließ und die Riten und Sakramente der Kirche
     zur Parodie machte. Was ich überdies dazu ausgenutzt habe, um meinen ketzerischen Neigungen freien Lauf zu lassen und durch
     meine Worte und meine Praxis die Beichte in Mißkredit zu bringen. Schließlich habe ich mit allen meinen Kräften die schlechten
     und subversiven Elemente von La Roque in der offenen Revolte gegen ihren Seelenhirten unterstützt und schriftlich gedroht,
     mit Waffengewalt einzugreifen, falls sie gemaßregelt würden. Ich habe sogar, gestützt auf trügerische historische Argumente,
     die Lehenshoheit über La Roque zurückgefordert. Es liegt auf der Hand, schließt Fulbert, wenn Hauptmann Vilmain – so nennt
     er ihn – sich nicht in La Roque niedergelassen hätte (Murren und Rufe: Lanouaille! Lanouaille!), wäre La Roque über kurz oder
     lang meinen kriminellen Anschlägen ausgeliefert gewesen, mit allen Folgen für die Freiheiten und das Leben unserer Mitbürger,
     die man sich leicht ausmalen kann. (Erbitterte und wiederholte Rufe: Lanouaille! Pimont! Courcejac!)
    In diesem Moment ist die Situation in der Kapelle aufs äußerste gespannt. Drei Viertel der Zuhörerschaft bewahren mit gesenkten
     Augen ein feindseliges Schweigen, scheinen aber, für den Moment wenigstens, von Fulberts Ton und von den Blicken, die er auf
     sie schleudert, eingeschüchtert zu sein. Die übrigen, Judith, Agnès Pimont, Marie Lanouaille, Marcel Falvine und die zwei
     Landwirte, deren Namen mir nicht einfallen, sind außer Rand und Band. Sie protestieren, sie brüllen, sie richten sich von
     ihren Plätzen auf und halten, nach vorn gebeugt, Fulbert sogar die Faust entgegen. Besonders die Frauen sind außer sich, und
     man hat den Eindruck, ohne die vier Männer, die man für meine Bewacher hält, wären sie imstande, sich mitten in der Kapelle
     auf ihren

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