Malevil
Verhältnis zu Gazel aus und schien glücklich, als er erfuhr, daß es sich gebessert hatte. Er war bei völliger
geistiger Klarheit. Am Abend bat er mich, ganz Malevil an seinem Bett zu versammeln. Als dies geschehen |544| war, blickte er uns einen nach dem andern an, als wollte er sich unsere Gesichtszüge ins Gedächtnis prägen. Obwohl er noch
zu sprechen fähig war, sagte er kein einziges Wort. Vielleicht hatte er Angst, beim Sprechen seiner inneren Bewegung nachzugeben
und uns den Anblick seiner Tränen zu bieten. Wie dem auch sei, er beschränkte sich darauf, uns mit einem ergreifenden Ausdruck
von Liebe und Bedauern anzublicken. Dann forderte er uns mit einem Wink zum Gehen auf, schloß die Augen, öffnete sie wieder
und bat Evelyne und mich zu bleiben, während die anderen hinausgingen. Danach sprach er kein einziges Wort mehr. Gegen sieben
Uhr abends drückte er Evelyne kräftig die Hand und starb.
Evelyne bat, als erste an seiner Leiche wachen zu dürfen. Da sie mir diese Bitte mit ruhiger Stimme und ohne eine Träne vorgetragen
hatte, stimmte ich ohne Mißtrauen zu. Zwei Stunden später fanden wir sie über Emmanuel liegen. Sie hatte sich den kleinen
Dolch, den sie im Gürtel zu tragen pflegte, in die Brust gestoßen.
Obgleich keiner von uns den Selbstmord bejahte, war niemand überrascht oder gar entrüstet. Evelynes Tat griff sowieso nur
ziemlich wenig einer Lösung voraus, die abzusehen war. Alle Bemühungen Emmanuels hatten nur bewirkt, sie am Leben zu erhalten,
und wir hatten immer den Eindruck, daß sie sich nur ans Dasein klammerte, um ihn nicht verlassen zu müssen. Wir berieten untereinander,
und mit Ausnahme von Colins Stimme beschlossen wir einhellig, sie nicht von Emmanuel zu trennen und sie gemeinsam zu begraben.
Die ablehnende Stimme Colins – die er mit religiösen Gründen rechtfertigte, was bei jedermann Anstoß erregte – war Anlaß zu
dem ersten Streit, der sich nach Emmanuels Tod unter uns erhob.
Wenn ich es bedenke, habe ich seither aufgehört, mich über die Beziehungen zwischen Emmanuel und Evelyne zu wundern. Obgleich
sich Emmanuel schon in der Welt von vorher gegen die Monogamie entschieden hatte und in der Folgezeit aus Gründen, die er
dargelegt, dabei geblieben war, glaube ich doch, daß die Sehnsucht nach einer großen, ausschließlichen Liebe nicht in ihm
erloschen war. Seine platonischen Beziehungen zu Evelyne erfüllten insgeheim diese Sehnsucht. Er hatte endlich jemand gefunden,
den er mit aller Kraft lieben |545| konnte. Doch Evelyne war noch nicht ganz eine Frau. Und es war keine ganze Ehe.
Abgesehen von zwei Männern, denen Meyssonnier die Bewachung der Wälle übertrug, kamen alle aus La Roque, um an Emmanuels Beerdigung
teilzunehmen, was selbst auf dem Abkürzungsweg durch den Forst einen An- und Abmarsch von fünfundzwanzig Kilometern ausmachte.
Es war die erste von den Pilgerfahrten, die La Roque alljährlich zum Grab seines Befreiers unternahm.
Judith Médard hielt auf Bitten des Gemeinderats eine ziemlich lange Rede, in der gewisse Formulierungen das Verständnis ihrer
Zuhörerschaft überstiegen. Die Humanität Emmanuels betonend, sprach sie von »seiner fanatischen Liebe zu den Menschen und
seinem gleichsam tierhaften Festhalten an dem Fortbestand der Gattung«. Ich habe diesen Satz behalten, weil er mir richtig
erschien und weil ich auch den Eindruck hatte, daß er nicht verstanden wurde. Gegen Ende mußte Judith ihre Rede unterbrechen,
um sich die Tränen wegzuwischen. Wir wußten ihr Dank für ihre Rührung und sogar für die Dunkelheit ihrer Grabrede, denn dadurch
wurde dem Anlaß eine entsprechende Würde verliehen.
Wir waren noch nicht am Ende unserer Leiden. Ungefähr eine Woche nach der Beisetzung brach die Menou alle Verbindung mit ihren
Mitmenschen ab, hörte auf, Nahrung zu sich zu nehmen, und verfiel in einen Zustand völliger Erschöpfung und des Schweigens,
aus dem sie nichts befreien konnte. Sie hatte kein Fieber, beklagte sich über keinerlei Schmerzen, es fehlte jegliches Symptom
einer Krankheit. Sie legte sich nicht zu Bett. Tagsüber blieb sie mit geschlossenen Lippen und ausdruckslosem Gesicht im Kaminwinkel
sitzen und starrte ins Feuer. Als wir sie anfänglich aufforderten, aufzustehen und etwas zu sich zu nehmen, antwortete sie,
wie Momo es zu seinen Lebzeiten so häufig getan hatte: Laßt mich doch in Frieden, verdammt noch mal! Dann hörte sie allmählich
auf zu
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